Mai 2022 - Ausgabe 239
Herr D.
Der Herr D. will nicht weiter diskutieren von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. war während seines ganzen Buchhalterlebens ein braver Diener des Staates gewesen. Er saß in seinem kleinen Büro, goss täglich den Gummibaum, grüßte freundlich Pförtner, Sekretärinnen und Hausmeister ebenso wie die Chefs aus den oberen Etagen und die Stars der politischen Bühne, wenn diese in den Niederungen der Verwaltung auftauchten. Er war nicht immer begeistert von der Politik des Auswärtigen Amtes, aber er glaubte, dass die Leute, die dort berieten und beschlossen, mehr verstünden von der Politik als ein Buchhalter oder ein Hausmeister. Erst die langhaarigen Kreuzberger hatten ihn allmählich davon überzeugt, dass man nicht alles glauben durfte, was man den Bürgern erzählte. Anfangs hatte er die Zopfträger belächelt, die bei der Präsentation eines Bauvorhabens auf dem Gelände der alten Brauerei auf dem Kreuzberg gleich eine »Gated Community« halluzinierten. Doch der Herr D. hatte in der Nähe gewohnt und die Jahre über mitverfolgen können, wie die Befürchtungen der Alt-Kommunarden Stück für Stück Wirklichkeit wurden - bis hin zu den gesperrten Privatwegen. Die ständig demonstrierenden Kreuzberger hatten den Bonner Beamten misstrauisch gemacht gegenüber einem unheilsamen Konglomerat aus Politik und Wirtschaft. Inzwischen war sein Misstrauen so groß, dass er die Tagesschau abschaltete, und zu den dünnen Tageszeitungen, die mit gleichen Titelbildern und Überschriften schlaff in den Zeitungsständern hingen, griff er auch nicht mehr. So blieb zur Meinungsbildung nur noch die Straße. Doch seit der Corona-Seuche und dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ähnelten auch die Diskussionen auf der Straße den Streitgesprächen zwischen Oppositions- und Regierungsparteien, deren Redner nur noch Parteisoldaten waren, die nur ein Ziel kannten: Sich irgendwie von der der gegnerischen Partei abzugrenzen. Als der Herr D. bei einer Diskussion über die neuartigen Impfstoffe bemerkte, dass sich die Menschheit schon öfter einmal geirrt habe, begrüßte man ihn zwei Tage später mit den Worten: »Ah, da ist ja der Impfverweigerer.« Dabei war der Herr D. längst geimpft! Auch im Ukraine-Krieg gab es nur zwei Meinungen. Als der Herr D. sich irritiert darüber zeigte, dass der halbe Bundestag den Kanzler mit Standing Ovations belohnte, weil der die Wiederbewaffnung der Bundeswehr ankündigte, wurde er zum »Putin-Versteher!« Der Herr D. seinerseits wurde nachdenklich. Noch nie wurde in Kreuzberg jemand kritisiert, der an eine Maxime erinnerte, die schon in den Siebzigern auf Plakaten der Demonstranten stand: »Frieden schaffen ohne Waffen!« Und noch nie - seit dem Ende der Naziherrschaft - wurden in Kreuzberg Menschen, die zögerten und sich die Freiheit nahmen, nachzudenken, so schnell in eine Ecke gedrängt. • |