Kreuzberger Chronik
Mai 2022 - Ausgabe 239

Geschäfte

Haase


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von Sybille Matuschek

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Es gibt Leute, die kommen zu Haase, 20 Jahre lang, und kaufen immer nur das Gleiche: 150 Gramm Prager Schinken. 20 Jahre lang. Jeden Montag, Mittwoch, und Freitag. Samstags nie. Weil samstags die Schlangen vor Haase zu lang sind. Drei mal die Woche 150 Gramm Prager Schinken. Solche Leute gibt es.

Marga Behrends zum Beispiel, die alte Chansonette, die ihr ganzes Leben lang in der Fürbringer Straße wohnte und ihr ganzes Leben lang von ihren Glanzzeiten im Friedrichstadtpalast erzählte: Wie sie sich nach der Vorstellung heimlich mit Hans Albers traf, und wie sie mit Marlene Dietrich shoppen war auf dem Ku´damm, und wie alle ihren schönen Beinen nachschauten und nicht denen der Dietrich.

Sie hatte ihren 100. Geburtstag auf einer kleinen Bühne in der Nostitzstraße schon gefeiert und konnte nicht mehr gut Treppen steigen, da musste alle zwei Tage einer aus ihrem Freundeskreis für sie »einholen« gehen. Auf dem Einkaufszettel stand jedes Mal: »Schinken von Haase aus der Marheinekehalle«. Und egal, wer dann vor der Theke von Haase stand - eine junge Frau mit Schleifen im Haar, ein Herr im speckigen Anzug mit Haaren so lang wie Christus, lauter Kreuzberger Künstlerkarikaturen... -, sobald einer aus dieser bunten Truppe »150 Gramm Prager Schinken bitte!« sagte, fragten die Verkäuferinnen auch schon: »Sicher wieder für Frau Behrends, wa?«

Ohne den Schinken von Haase wäre die Chansonette gestorben. Und wer vom Einkauf zurückkam und keinen Prager Schinken dabei hatte, der lief Gefahr, nie wieder zum Einkaufen geschickt zu werden. Er hätte alles vergessen dürfen, das Toilettenpapier, die Butter, die Schokolade, den Picolo - aber wenn der Schinken fehlte, dann ent-faltete sich ihr ganzes leidenschaftliches Temperament. Dann kannte sie keine Gnade mehr mit diesen »jungen Leuten«, die sie so liebte, die aber längst auch schon wieder ein halbes Jahrhundert alt waren, und die es immer noch nicht verstanden, Prager Schinken von Koch- schinken unterscheiden.

Haases Prager Schinken ist eine Legende. Jeder alte Kreuzberger kennt ihn. »Aus eigener Herstellung« steht auf dem kleinen Schildchen. Dabei sieht er aus wie jeder andere auch. Vielleicht sind die Bollen ein winziges bisschen größer, vielleicht ist das Rosa des Fleisches tatsächlich eine Spur dunkler – aber eigentlich sieht er aus wie jeder andere Schinken auch.

Der einzige wirklich augenscheinliche Unterschied ist die knusprige Kruste. Herr Haase hat ein akkurates Muster aus kleinen Quadraten in diese Schweineschwarte geritzt, ganz ähnlich dem karierten Muster des Einpackpapieres von Haase. Auch die Dienstuniform der Haase-Mitarbeiter mit ihren schwarz-weiß karierten Hemden erinnert zu deutlich an die Kruste des legendären Schinkens, um ein purer Zufall zu sein.

Es ist anzunehmen, dass schon der junge Haase, der nach dem Krieg mit seinem VW-Bus als fahrender Wurst- und Schinkenverkäufer durch die Stadt fuhr und für seinen Schinken mit der karierten Schwarte bekannt war, daran dachte, das Karo zu seinem Markenzeichen zu machen. Der Mann mit dem roten Bulli war auf der Überholspur, und als 1954 die im Krieg zerstörte und wieder aufgebaute Marheinekehalle eingeweiht wurde, zog auch der Herr Haase mit seinem Schinken ein und eröffnete sein erstes eigenes Geschäft. Inzwischen hat der alte Haase 14 Filialen in ganz Berlin.

Längst ist auch der zuerst gepökelte, dann kalt geräuchte und zuletzt kurz abgebrühte Schinken nicht mehr die einzige Spezialität aus dem Hause Haase. Es gibt da noch etwas, das sich sehr großer Beliebtheit bei den Markthallengängern erfreut: die Knusperecken. Sind sie doch nichts anders als kleine Stückchen eben jener akkurat karierten Knusperkruste des berühmten Prager Schinkens! Sie sehen verführerisch aus und sind – obwohl sie prosaisch betrachtet aus geschätzten 90% purem Schweinefett bestehen - dazu geschaffen, auch bei eingefleischten Vegetariern die Speichelproduktion in Gang zu setzen.

Natürlich gibt es neben der tschechischen Spezialität auch hauchdünnen Serranoschinken aus Spanien, Salami aus Italien oder die schlanken Würstchen aus Wien. Herr Haase hat die schmackhaften Ausländer gerne bei sich aufgenommen, doch sein Herz schlägt für die deutsche Wurst. Bei Haase in der Marheinekehalle finden die Touristen aus Italien, Japan oder Amerika die legendäre deutsche Leberwurst gleich in vier verschiedenen Sorten: die feine Kalbsleberwurst, die grobe Gutsleberwurst, die Delikatessleberwurst und die Wildschweinleberwurst. Sie finden die Blutwurst, das Sauerfleisch, das Zwiebelfleisch, das Apfel-Grieben-Schmalz und die Sülze - lauter unwahrscheinliche Wurstkreationen, von denen Deutschlandreisende einst noch zum Erstaunen ihrer Landsleute berichteten, wenn sie wieder vor der heimischen Theke mit den zwanzig verschiedenen Salamisorten standen.

Haase macht alle glücklich, die alten Berliner ebenso wie die jungen Touristen, die sich eine Scheibe vom heißen Leberkäse mit Karomuster zwischen eine Semmel quetschen oder eine dieser berühmten Berliner Bouletten mit Senf bestreichen lassen. Und womöglich werden auch sie zu Hause noch davon schwärmen, von diesen letzten echten deutschen Spezialitäten.

Foto: Edith Siepmann




Als der Kaffee noch 80 Cent kostete.






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