Kreuzberger Chronik
März 2022 - Ausgabe 237

Kreuzberger
Johannes Barthelmes

Ich habe eine eigene Art


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Er hat es nicht herumerzählt. Kaum einer wusste, was er eigentlich macht. Wenn die Nachbarn ihn am Fenster der kleinen Wohnung stehen und rauchen sahen, mögen sie gedacht haben, er sei arbeitslos und leide unter Langweile. Sie ahnten nicht, dass das nur kurze Arbeitspausen waren, und dass er dann wieder in seinem winzigen Proberaum verschwand, mit Blick auf den Hinterhof mit dem Fußballplatz, auf dem die Enkel der türkischen Einwanderer von einer Karriere als Fußballer und einem besseren Leben träumten. Sie wussten nicht, dass hinter den aus allem möglichen Material zusammengezimmerten, schalldichten Wänden jemand stundenlang Saxophon übte. »Das Proben ist das Wichtigste.« Nicht die Auftritte. Nicht die Aufnahmen im Studio. »Nur beim Proben geht wirklich etwas weiter. Da kann man sich entwickeln.«

Johannes Barthelmes probte viel. Manchmal spielte er im Bebop, das um die Ecke lag. Vor fünfzehn, an guten Tagen zwanzig Zuhörern. Bis er 1997 anlässlich der 28. Frankfurter Jazztage in der Philharmonie auftrat. Bis der Nachbar, der immer im Fenster stand und rauchte, plötzlich im ZDF auftauchte, gemeinsam mit Elliot Sharp, Santi Debriano und Cindy Blackman, dieser irren Schlagzeugerin, die jetzt Cindy Blackman-Santana heißt, weil sie nicht nur trommeln kann, sondern auch so schön ist, dass Carlos sie heiratete. Carlos, der Große, der schon in Woodstock mit seiner Gitarre auf der Bühne stand. »Und die kommen nach Deutschland und spielen meine Stücke! Meine Kompositionen. Die nehmen einfach meine Noten und es klappt, ohne Proben, ohne dass wir uns je getroffen hätten. Wahnsinn!«

Johannes Barthelmes ist schnell begeistert. Deshalb redet er auch so schell, von allem Möglichen, nicht nur von Musik. Das mit der Musik hat er oft verschwiegen. Es kann schwierig werden in einem Künstlerviertel, wenn man plötzlich Erfolg hat, während alle anderen noch davon träumen. Aber als Volker Kriegel in der FAZ schrieb, dass »ein Licht aufging« als der »Saxophonist Johannes Barthelmes die Bühne betrat«, ließ sich das mit dem Saxophon nicht mehr verschweigen. Da kamen ihm die Neider schon von Weitem entgegen, hielten ihm die FAZ unter die Nase, deuteten mit dem Finger auf sein Bild und fragten: »Na, wieviel hast Du dafür bezahlt, dass sie das drucken!«

Johannes Barthelmes ist schnell begeistert und ebenso schnell enttäuscht. Er ist emotional. Das ist gut für einen Musiker. »In der Musik geht es darum, Emotionen zu vermitteln. Es gibt Leute, die sind die besseren Techniker. Aber wenn ich von der Bühne gehe, bin ich klatschnass. Wenn ich spiele, ist da alle Liebe drin und alle Wut.«

Aufstieg und Fall liegen oft nahe beieinander im Leben von Johannes Barthelmes. Er hatte es gerade geschafft, hätte »endlich davon leben können«, da kippte die Stimmung. Es gab Streit mit den Musikerkollegen, Beziehungen gingen auseinander. Er begann zu trinken, geriet ins Taumeln, verletzte sich am Ende so sehr an der Hand, dass der Arzt sagte: »Das mit der Musik können Sie jetzt vergessen.«

Am Chamissoplatz, Foto: P. U. Maurer

Also packte er alles, was mit Musik zu tun hatte, in einen Koffer: Zeitungsausschnitte, Noten, Technik. Und den Koffer trug er in den Keller. »Ich war einfach zu traurig.« Obwohl er an solche Handicaps gewohnt war. Schon mit dreizehn, als Jugendmeister im Tennis, hatte er Probleme mit dem Rücken und den Armgelenken. »Morbus Scheuermann. Die Hälfte des Jahres war ich in Gips, entweder die Arme oder die Beine. Und dann fiel ich irgendwann auch noch vom Pferd. Als der Gaul auf mich losrennt, wollte ich mich abstützen und weglaufen, und da sehe ich, dass mein Arm quasi im rechten Winkel absteht.« Es war kein einfacher Start ins Leben in Speyer am Rhein.

Mit 16 musste er den Schläger aus der Hand legen. Dafür kamen 1971 die besten Rockmusiker der Welt nach Speyer: Fleedwood Mac, Rory Gallagher, und am Sonntag um Mitternacht Pink Floyd. Die Insel im Rhein verwandelte sich für drei Tage in Woodstock, 30.000 Hippies waren da. »Die Polizisten hingen mit Ferngläsern am Zaun und begafften die Nackten, die im Fluss badeten.«

Später, als Barthelmes in Graz Musik studierte und das Saxophon zu seinem Lieblingsinstrument wurde, traf er auf einen Berliner, der ihm von Berlin vorschwärmte, und als er im Februar 1980 zu Besuch nach Kreuzberg kam, »saßen hier alle im T-Shirt auf der Straße. Es hatte zwanzig Grad.« Wenig später zog er nach Berlin. Und probte und spielte so lange, bis er gut genug war für die Philharmonie.

Alles lief nach Plan, bis er die Hand nicht mehr bewegen konnte. Bis der Arzt sagte, dass er das mit der Musik vergessen solle. »Ein Jahr lang ging nichts mehr, die Finger waren steif.« Aber eines Tages stieg er in den Keller und holte den Koffer wieder nach oben. Zuerst probierte er es mit einem Sopransaxophon und zwei steifen letzten Fingern an der rechten Hand. »Ich konnte gerade noch die untere Klappe damit bedienen, dann fiel mir das Ding runter vor lauter Schmerzen.« Bis heute trägt auch das zierliche Instrument bei ihm einen Gurt.

Er frühstückte Schmerztabletten, begann wieder regelmäßig zu proben, stand am Fenster, jetzt ohne Zigarette, ohne das Glas Wein. Nach einem Jahr gab ihm der Arzt eine ordentliche Dosis Kortison, damit er wieder auf die Bühne konnte. Trotzdem »ging nichts mehr weiter.« Er trat auf der Stelle. Und irgendwann am Ende des Jahrtausends, auf einer Südostasientour mit Uli Lenz, lag er backstage auf einer Liege mit seinen Schmerzen, während die anderen vorne spielten. Und als sie später durch Hanoi fuhren, wo die Wasserträger noch »wie in 1001 Nacht mit einem Stock über den Schultern durch die Straßen laufen, und wo die Frauen in ihren bunten Kleidern mit den Kindern auf dem Arm in den grünen Reisfeldern standen, da sagte er zu Uli: »Ich wusste nicht, dass es Asien noch so gibt. Das muss man doch mal festhalten.«

Also tauschte er die Instrumente. Legte das Saxophon weg und nahm die Leica. Wieder ging es ihm um Emotionen. »Als Fotograf, in Porträts zum Beispiel, willst du Gefühle einfangen in den Gesichtern.« Musik und Fotografie, das sind »zwei Wege zum gleichen Ziel«. Barthelmes fotografierte viel, in Indien die Badenden im Heiligen Fluss, die Pilger am Ufer, und in Havanna die Straßen, die Fassaden, die Automobile, die Kinder in Hinterhöfen, die Alten vor der Haustür. »Da lief ich mir jedes Mal in zwei Monaten drei Paar Schuhe kaputt.«

Er hat so viele Gesichter Havannas fotografiert, dass die kubanische Tagesschau über ihn berichtete. Anlässlich der 500-Jahr-Feier der Stadt porträtierte er im Auftrag des kubanischen Kultusministeriums alte Tänzerinnen und präsentierte 60 großformatige Bilder im Palacio de los Torcedores. »Die Frauen waren alle über 70, aber sie tanzten als wären sie 20!«

Auch eine Serie von Müttern und Töchtern fand ihren Weg in große Ausstellungsräume, darunter Rosali mit ihrer Mutter. Barthelmes hatte sie vor dem Supermarkt kennengelernt, war einen halben Tag mit dem Taxi unterwegs, nur um das Haus zu finden. Das Bild, auf dem die siebzigjährige Tochter am Küchentisch sitzt und Gitarre spielt, während die hundertjährige Mutter singt, war später auch in einer Ausstellung der Browse Gallery in der Marheinekehalle zu sehen.

Die erste Ausstellung in der serene Bar

Schon 2001 hatte Barthelmes in der Serene Bar seine Akte ausgestellt. Es dauerte nicht lange, da titelte die BZ »Der neue Newton!« und zeigte ein Bild des Kreuzbergers vor einigen wagemutigen Aktfotografien im Hintergrund, während die Berliner Morgenpost vom »bekennenden Voyeur« sprach. »Ich habe meine eigene Art. Vielleicht bin ich deshalb erfolgreich.« Doch nicht nur mit den Nackten erregte er Aufmerksamkeit, die Porträts und Straßenszenen aus Kuba und Indien schafften es in Zeitungen und Magazine. Das Fotojournal Brennpunkt widmete ihm ein mehrseitiges Portfolio, der Spiegel druckte sein Porträt von Bardo Henning, das des Grimmepreisträgers Sascha Arango landete auf dem Buchdeckel. Auch auf dem Berliner Jazzfest sollte er fotografieren, aber als ihn einer der Zuschauer anpöbelte, weil er im Wege stünde, ging er wieder. »Das war mir zu traurig.« Drei Jahre zuvor hatte er noch selbst auf der Bühne gestanden.

Die Musik fehlte ihm, und als Barhelmes 2012 auf einer seiner kubanischen Ausstellungen den Saxophonisten Reinier De La Peña kennenlernte, freundeten sich die beiden an. Eines Tages zeigte Barthelmes dem Kubaner auf seinem neuen Handy das Video vom Auftritt • Am Malecon, Havanna, Foto: Johannes Barthelmes in der Frankfurter Philharmonie. Augenblicklich drückte Reinier dem Deutschen sein Saxophon in die Hand und befahl: Spiel! Zum ersten Mal nach sechzehn Jahren spürte er wieder dieses schlanke Mundstück an seinen Lippen. »Ich bekam kaum einen Ton heraus, die ganze Muskulatur fehlte ja inzwischen. Das glaubt keiner, aber man braucht Muskeln zum Saxophonspielen.

Am Malecon, Foto: Johannes Barthelmes

Als ich gehen wollte, bestand er darauf, dass ich das Instrument mitnehme. Es dauerte fünf Tage, bis ich einen halbwegs vernünftigen Ton herausbekam. Aber ich hatte Blut geleckt, und weil ich im Zimmer nicht üben konnte, bin ich auf die Promenade ans Meer gegangen, zum Malecón. Da ist abends halb Havanna versammelt, immer spielen irgendwelche Straßenmusiker. Und dann kommen ein paar Touristen vorbei und werfen mir eine Münze in meinen Hut auf der Mauer. Da dachte ich: Ich muss wieder anfangen!«

Barthelmes hatte das Saxophon einst gegen die Leica getauscht. Die Leica legte er nicht mehr aus der Hand. Aber zurück in Berlin lieh er sich ein Saxophon. Prompt riss die Sehne des linken Mittelfingers. Also tauschte er das Saxophon gegen eine Querflöte, um irgendwie üben zu können, mit geschientem Finger. Und dann kam sein alter Freund Jacques Nobile, der Posaunist aus Korsika, zu einem Abschiedsessen nach Berlin. Der Korse wusste, dass seine Tage gezählt waren. Mit am Tisch saß der Schlagzeuger Paulo Eleodori, den Barthelmes noch von früher kannte. »Lass uns mal zusammen spielen!« sagte Barthelmes. »Ich habe mir gerade ein Saxophon geliehen.«

Paulo brachte einen italienischen Bassisten mit, Carmelo Leotta. Und als sie sich das nächste Mal trafen, war schon ein Pianist dabei, Davide Incorvala. »Das ist ne Band!«, sagte Barthelmes. Die Band erhielt den Namen Johannes Barthelmes Hipnosis. Wegen der hypnotischen Wirkung. Und dann, im Sommer 2020, erschien nach zwanzig Jahren des Schweigens wieder eine CD mit dem Kreuzberger Saxophonisten. Sie heißt »pasión o muerte« - Leidenschaft oder Tod. »Wenn ich etwas mache, egal was, dann mit Leidenschaft. Sonst kann ich es auch bleiben lassen!« Und er fügt hinzu. »Vielleicht fange ich eines Tages auch noch an zu schreiben.«

Tatsächlich hat er sich bereits Notizen gemacht. Es ist ja mit der Schriftstellerei nicht anders als mit der Fotografie oder der Musik. Technik kann man studieren. Aber es nützt die beste Technik nichts, wenn man die Bilder nicht sieht, die Musik nicht hört, wenn man keine Emotionen empfindet. Und so ist es auch beim Schreiben. »Ich kenne viele, die können schöne Sätze formulieren. Aber wenn einer nichts zu erzählen hat, dann sollte er schweigen. Wenn ich einmal anfange zu schreiben, dann nur, weil ich sonst platze.« •


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