Juni 2022 - Ausgabe 240
Mühlenhaupts Erinnerungen
Ingrid von Kurt Mühlenhaupt |
Wir fuhren zu mir, denn sie wollte mein Anwesen kennenlernen. Davor war ein tiefer Graben, der das Wasser auffing. In diesem Falle aber auch einen Besoffenen, denn jemand zappelte da unten. Als wir genauer hinsahen, erkannten wir den Dorfdeppen, der es mit dem Fahrrad nur bis hierher geschafft hatte. »Den können wir nicht liegen lassen!«, sagte Ingrid. - »Dem passiert nichts«, sagte ich. »Besoffene haben Schutzengel.« - »Genau«, sagte sie. »Der Schutzengel bist du.« So kam es, dass wir ihn mit viel Mühe aus dem Graben zogen und in mein Atelier schleppten. Der Kerl war so voll, daß er von alledem nichts bemerkte. Wir legten ihn auf mein schmales Nero-Sofa, das eigentlich für die Aktmalerei bestimmt war. Damit er nicht runterfällt, banden wir noch eine große, rosarote Schleife um seinen Bauch. Um ihn herum stellten wir Vasen mit Blumen. Davon hatten wir genug im Garten. So sah er nun aus wie ein geschmücktes Osterei. Wir kümmerten uns nicht mehr um ihn und verbrachten die Nacht im Nebenzimmer. Erst kurz vor Mittag wurden wir wieder wach. Nun wollten wir natürlich wissen, was unser Gast macht. Er war spurlos verschwunden. Wir machten uns auf den Weg zu unserer Dorfkneipe, um ein paar Flaschen Bier zu holen. In der Kneipe saßen schon einige, und unser Dorfdepp stand schon wieder in der Mitte des Raumes und erzählte jedem, der hereinkam, eine wundersame Geschichte. (...) »Nein, ihr könnt mir glauben. Ich war gestern nacht im Himmel. Die Engel trugen mich und betteten mich. Ich trug eine große Schleife um den Bauch und um mich herum standen nur Blumen. Aber ich bekam dann doch einen derartigen Durst, daß ich mich wieder zur Welt zurücksehnte. Wahrlich, das alles ist mir vergangene Nacht passiert. Ich schwöre es!« Entnommen aus Kurt Mühlenhaupts autobiographischem Werk in 11 Bänden erhältlich im Kurt Mühlenhaupt Museum, Fidicinstraße 40 |