Kreuzberger Chronik
Juni 2022 - Ausgabe 240

Geschäfte

Die Kiezbäckerei


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von Sybille Matuschek

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Es ist ein sonniger Werktagsvormittag, zehn Uhr. An einem Tisch vor dem Café in der Reichenberger Straße sitzt ein Mann auf seinem Rollator vor einer Tasse Kaffee und einem Stück Blechkuchen mit Aprikosen. Die Frau mit der Sonnenbrille auf der markanten Jacky-Kennedy-Onassis-Nase und der roten Marilyn Monroe-Lederhandtasche über der Schulter ist gerade aufgestanden, hat Teller und Tasse wieder hereingebracht und vorsichtig auf der Vitrine abgestellt. Die Frau hinter dem Tresen sieht sie erstaunt an. »Also, wissen Sie…«, sagt die Kennedy, »ich wohne hier seit 20 Jahren und bin nie hier drin gewesen. Aber das Croissant und der Latte, die sind einfach…« – die Frau streckt die Unterarme hervor, wendet die Handflächen mit gespreizten Fingern flehend dem Himmel zu wie ein Prediger, der Gottes Segen oder Gnade oder zumindest einen Wink von ihm empfangen möchte – »also, die sind einfach – ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll - ... phantastisch!« Die blonde Frau hinter dem Tresen lächelt müde. Bäcker müssen früh aufstehen.

Dass die Kennedy noch nie hier war, lag vielleicht daran, dass das Bäcker-Bistro kein Sofa und keine Sessel, keine Spitzendeckchen und keine alten Kaffeekannen ausstellt, und dass es keine gemütlichen Ecken mit Zeitungen und keine Vitrine voller Torten gibt. Auch keine jungen Leute, die mit ihren Laptops und Handys im einstigen Schneider- und heutigen Lotussitz im Schaufenster sitzen und aneinander vorbeischauen. Der Laden ist so unspektakulär wie die gesamte Reichenberger Straße: Gegenüber dem Eingang eine charmelose Bus-haltestelle der BVG mit vergessenen Pappbechern auf besprayten Sitzbänken und eine Linde am Straßenrand, deren Stamm sämtliche Hunde des Viertels dazu verleitet, den Hinterlauf zu heben. Eine Kreuzung mit Ampel, Autobusse, Lieferwagen, schimpfende Fahrradfahrer. Und direkt vor dem Café fünf silberne Bistrotische aus Leichtmetall und federleichte Rohrstühle, bespannt mit blauen Plastikstrippen. Bäcker brauchen ihre Kräfte zum Teigkneten!

Doch allem Anschein zum Trotz ist dieser Bäcker keine Filiale von Leckerback & Co. Im Gegenteil, er ist Kult. Berühmt. Keine Zeitung, die nicht schon über ihn geschrieben hätte, das Fernsehen und die Politik waren da. Alle in der Reichenberger lieben ihn. Er gehört zum Kiez, seit langem. Ab sechs Uhr morgens gibt es frisches Brot und Laugengebäck, Zimt und Rosinenschnecken, Aprikosenplunder und Blechkuchen. Und natürlich Baguettes und Croissants und Franzbrötchen und ein Mini-Brioche. Und diesen phantastischen Kaffee.

Der Bäcker heißt Filou und backt französisch. Bekannt wurde er 2017 durch einen Engländer namens Skinner, der behauptete, der Franzose sei »kein richtiger Bäcker« und könne nicht backen.

Diese Lüge erregte die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft und in der Folge die der Medien, da die Engländer nicht unbedingt den Ruf besaßen, Spezialisten auf dem Gebiet der Kulinarik zu sein. Hinzu kam, dass besagter Engländer seit 2001 auch Besitzer des Hauses war, in dem der Bäcker seine Brötchen buk, und dass er dem Franzosen plötzlich und unerwartet kündigte. Nicht, um den Profit zu optimieren, sondern weil er so schlecht buk. So zumindest zitierten ihn die Zeitungen. Er wolle »da ja keinen Starbucks reinpacken oder irgendeinen schicken Laden«, er wolle »einfach nur einen richtigen Bäckermeister«.

Im Café vermutete man: »Wir sind wohl nicht mehr schick genug für die Gegend!« Den Eindruck hatten die Nachbarn auch. Der Engländer, der gemeinsam mit seinem Kompagnon David Evans gleich drei Häuser in Berlin gekauft und im Haus in der Reichenberger Straße Ferienwohnungen eingerichtet hat, konnte sich keine Freunde machen im widerspenstigen Kreuzberg 36. Im Gegenteil: An einem Sontag versammelten sich 300 Nachbarn vor dem Café Filou und demonstrierten lautstark für ihr Kiez-Café, begleitet von den Kameras der Berliner Abendschau und den Tageszeitungen. Das hatte Auswirkungen bis ins Kreuzberger Rathaus, wo sich – eine seltene Ausnahme im ewigen Parteienstreit – einmal alle einig waren: CDU, Linke und die Grünen! Was die BZ auf die Idee brachte, von einer »Kuchenkoalition« zu sprechen. Gemeinsam forderte die Bezirksverordnetenversammlung den Eigentümer auf, die Kündigung der Bäckerei zurückzunehmen.

Und Christian Ströbele, Kreuzbergs prominentester Altgrüner und ewiger Altkreuzberger, der einst in seiner Rolle als Anwalt schon zwischen RAF und Staat zu vermitteln versuchte, schaffte es tatsächlich, Engländer, Franzosen und Deutsche zu Friedensverhandlungen an einen Tisch zu locken. Es sei, so der einzige Kommentar des Anwalts, »sehr emotional zugegangen«, und es habe ausgesehen, als ließe sich keine Lösung finden. Doch am nächsten Tag seien die Engländer auf den Franzosen zugegangen. Am 12. Juli 2017 kam es zur Unterzeichnung des womöglich dereinst historischen »Ströbele/Skinner/Evens-Vertrags«, denn es handelt sich um den ersten praktisch unkündbaren Gewerbevertrag Berlins. Schon Eberhart Diepken dachte einst daran, den Berliner Gewerbetreibenden per Gesetz mehr Kündigungsschutz einzuräumen. Nun hat es der Franzose mit seinen Croissants geschafft. Die Lokalzeitungen jubelten und die ZEIT schrieb »Von einem, der nicht auszog.«

Frau Kennedy ahnt von alledem nichts und zwitschert im Hinausgehen: »Ich komme jetzt jeden Tag! Das sind die besten Croissants in Town!« - Der Bäcker darf bleiben, aber der Vormarsch merkwürdig Andersdenkender ist nicht länger aufzuhalten.

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