Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Strassen, Häuser, Höfe

Die Oranienstraße 19a


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von Reiner Schweinfurth

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Auf dem Hof und im Hinterhaus ist die Welt noch in Ordnung. Im Vorderhaus eine, laut Hinweis an der Tür, »gentrifizierungsresistente« Bar und ein kleiner Pizzabäcker. Auf dem Hinterhof im Seitenflügel und im Quergebäude logieren eine Tischlerei, ein Farbenfachhandel und einige Künstlerinnen und Künstler. Ganz oben das Atelier Oranienstraße. Hier arbeiten seit fast vierzig Jahren Pioniere des kreativen Kreuzberg. »Wir haben überlebt«, sagt Pit Mischke, »»aber durch die stadtweite Gentrifizierung wird es natürlich immer schwerer.««

Denn auch hier steigen die Mieten. Nach den goldenen Zeiten Anfang der 80er-Jahre, als die behutsame Stadterneuerung viele Häuser rettete und sich dort eine neue Kultur entfalten konnte, ist auch die Gegend um den Heinrichplatz eine Beute der Spekulanten geworden. »Wir gehörten plötzlich einem Finanzinvestor, der das Geld der New Yorker Feuerwehr anlegt.« Cerberus, benannt nach dem doppelköpfigen Höllenhund aus der griechischen Sagenwelt, hat die Immobilie mittlerweile an ein anderes Ungeheuer verhökert: Die Deutsche Wohnen. Eine Kündigung konnte abgewehrt werden. Doch die Rendite-Schlaumeier lassen nicht locker.

Die alte Scharnierfabrik war in den 80er-Jahren eine Ruine. Löcher in der Decke, die Heizung war abmontiert, Strom gab es, aber der Fußboden war eine Ölrutschbahn. In diesem Zustand verlangte der einstige Eigentümer aus München eine Mark pro Quadratmeter, überließ aber das Haus sich selbst. Kann sich heute kaum noch jemand vorstellen, wo schon überlegt wird, in ehemalige Außenklos Ein-Zimmer-Wohnungen einzubauen.

Das Dachgeschoss bauten die Mieter damals noch auf eigene Kosten selbst aus. Später renovierte die GSW mittels Senatszuschüssen Hof und Haus, in dem Werner Brunner, Vera Malamund, Pit Mischke und Helge Wütscher 1986 dann das Atelier Oranienstraße gründeten, womit sie heute wahrscheinlich wahrscheinlich eine der ältesten Künstergemeinschaften Berlins sind.

Die politische Kunst der 20er-Jahre stand Pate, etabliertes Galerie-Art-Deco lehnten die Künstler ab. Die Gegner standen auf der Seite der Bourgeoisie. Drei Kreative sind
mittlerweile ausgezogen und ersetzt durch Hadmut Bittinger, Pola Brändle und
Friederike Linssen. Aus dem Fenster nach hinten fällt der Blick auf das Frauenzentrum derSchokofabrik. Das Künstlerhaus Bethanien ist nicht weit, und das Atze-Kindertheater hat im Dachgeschoss noch immer sein Büro. Im ganzen Block hat der Aufbruch der Instandbesetzer bis heute sichtbare Spuren hinterlassen.

Die Oranienstraße war in den 80-ern nicht nur am 1. Mai ein Boulevard zwischen Aufstand und Happening. Die Atelier-Artisten mitten drin. In den umliegenden Kneipen traf man sich, stritt um die Richtung, wo es nach links ging. Auf den Plakaten fand Kunst statt, parteilich, Volksvertreter wurden als Monster dargestellt. Im Nachbarbezirk Neukölln hinterließ das Aetlier auf seelenlosen Brandmauern in der Flughafen- und der Donaustraße Wandbilder zur Geschichte des Bezirks, unter anderem das Bild vom Rosinenbomber in der Flughafenstraße Ecke Mahlower Straße. Als Vorlage diente den Künstlern das bekannte Luftbrücken-Foto von Kindern auf einem Schutthaufen beim Flugplatz, die auf Schokolade warten, die amerikanische Piloten aus dem Cockpit warfen. »Unvergesslich!«, erzählt Pit Mischke, »wie wir da bei der Einweihung stehen und ein alter Mann mir auf die Schulter klopft und sagt: Der Kleene da auf dem Foto, det bin icke!«

Den Kommunisten von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, die im Bezirk einiges zu sagen hatten, war manches zu krass und wohl auch zu flapsig. Auch die Linke hatte in Kreuzberg ihre Differenzen. Gegen den Senat war man sich meistens einig, der Warschauer Pakt dagegen sorgte für Zwist. Für Demos wurden Plakate mit Karikaturen gemalt. Ein beliebtes Motiv war der damalige Innensenator Lummer, der sich nicht oft in der Gegend blicken ließ. Die Mauer war ein Schutzwall für Freaks, für die, die in Westdeutschland die Faxen dicke hatten. Sie kamen nach SO 36 und konnten so sein, wie sie wollten.

Doch die Kunstszene in der Umgebung ist kleiner, das politische Brummen und Summen leiser geworden. Die Verschiedenheit der Stile ist jedoch weiter Programm geblieben im vierten Stock. Und auch die engagierte Laune, mit Bildern und Objekten und staatskritischer Gesinnung sich einzumischen. Gegen Kapitalismus, gegen Waffen und Gewalt, gegen Spießer und CDU, für eine gerechte Verteilung der Ressourcen, Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen – diese Haltung stiftet immer noch den gemeinsamen Geist der Bewohnerinnen und Bewohner. Zu den Grünen bestehen freundschaftliche Kontakte.

Ein Kollektiv ist kein Zwang, aber »wir schauen uns manchmal über die Schulter und helfen uns bei der Entwicklung von Ideen«, sagt Pit. Die Künstlerin Hadmut Bittiger passt in dieses Konzept mittlerweile seit fünf Jahren. Sie »erforscht bevorzugt zwischenmenschliche Beziehungen. Es entstehen Installationen zu den Themen Flucht, Migration, Integration, aber auch zur Suche nach dem Potenzial kultureller Vielschichtigkeit in der Großstadt sowie dem interreligiösen Dialog in unserer multikulturellen Gesellschaft.«

Das Atelier in der Oranienstraße 19a könnte auch junge Künstler ermutigen, sich zusammenzutun und Stellung zu beziehen. Denn »es scheint ja immer noch zu stimmen: allein machen sie dich ein!«. Der Senat hat mittlerweile die Bedürfnisse der Künstler erkannt und unterstützt sie. Über 30 Atelierhäuser gibt es derzeit in der Stadt, die meisten sind subventioniert. •


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