Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Geschichten & Geschichte

Der zerstreute Professor


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von Werner von Westhafen

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Anekdoten um August Johann Wilhelm Neander


Nicht nur auf dem Gipfel des Kreuzbergs, wo man mit einem Nationaldenkmal die siegreichen Befreiungskriege gegen Napoleons Truppen feierte, auch auf dem Königsplatz errichtete man ein Nationaldenkmal, das an blutige Siege auf Schlachtfeldern erinnerte. 1873 wurde vor dem Schloss eine 50 Meter hohe Siegessäule eingeweiht, auf der in strahlendem Gold und weithin sichtbar die Siegesgöttin Viktoria balancierte.

Die Berliner zeugten der Göttin wenig Respekt und machten sie bereits am Tag ihrer Einweihung – inspiriert durch den in jenen Jahren erschienenen gleichnamigen Bestsellerroman von Eugenie Marlitt - zu ihrer »Goldelse«. Sie waren der Meinung, die Dame sei mit über acht Metern viel zu groß geraten für die kleine Säule. Und als man diese ein halbes Jahrhundert später vom Königsplatz in die Mitte des Großen Sterns im Tiergarten verpflanzte, hob man, um erneutem Spott vorzubeugen, den Sockel noch einmal um sieben Meter an. Die Goldelse allerdings hat ihren Namen bis heute behalten.

Verantwortlich für das scheinbar überproportionierte Goldstück war der aus Pyrmont stammende Bildhauer Johann Friedrich Drake, der sich zuvor an Beethoven, Kaiser Wilhelm III oder Johann Friedrich I hatte versuchen dürfen. Ein weniger berühmtes Modell war Professor August Johann Wilhelm Neander, der 1850 im Alter von 61 Jahren verstarb und auf dem Jerusalemer Friedhof vor dem Halleschen Tor beigesetzt werden sollte. Drake erhielt den Auftrag, einen Grabstein mit dem Relief des Theologen anzufertigen. Es ist eine eher bescheidene Arbeit, doch selten wirken die versteinerten Gesichter auf den Grabmälern so lebendig wie das des Professors.

Dass auch der lebende August Johann Wilhelm eine quicklebendige Figur war bezeugen Berichte. Die geistige Regsamkeit des Mannes, der zeitlebens so tief in seine Gedanken versunken gewesen sein soll, dass er das Leben um ihn herum kaum wahrnahm, war stadtbekannt. Die Anekdoten über ihn erinnern an das Klischee des verwirrten, senilen Professors aus Schwarz-Weiß-Filmen.

Gegen die banale Altersschwäche sprechen Bücher, die Neander verfasste, sowie Auszeichnungen, mit denen man ihn noch im Alter bedachte. Auch die Zeichnung eines Schülers, der den Redner am Pult in aller Ruhe porträtieren konnte, da sein Modell während des Vortrags tief in sein Manuskript versunken war, zeigt keinen vom Alter gebeugten Greis, sondern einen jungen Mann mit struppigem Haar.

Die kursierenden Geschichten über seine Zerstreutheit dürften ihn kaum interessiert haben, und wenn die Berliner ihresgleichen als »reinste Neander« bezeichneten, wenn sie ihren Schlüssel zuhause vergessen hatten, wird ihm nur ein müdes Lächeln abgerungen haben. Für ihn zählte vor allem eines: Das Wort Gottes.

Geboren 1789 mit dem Namen David Mendel und als Sprössling eines Kaufmanns und Geldverleihers aus der Verwandtschaft des Bankiers Moses Mendelssohn zog der Junge mit der Familie nach Hamburg, wo er das Gymnasium besuchte und Bekanntschaft mit den Gedichten Klopstocks und den Reden Schleiermachers machte. Mit 17 konvertierte er, wie auch andere Mitglieder der Familie, vom Judentum zum Christentum. Sprachverliebt und des Altgriechischen mächtig verwandelte er David Mendel in August Neander – den »neuen Menschen«.

Seine Karriere ist schwindelerregend: Mit 20 hält er als examinierter Theologe seine erste Predigt, mit 22 habilitiert er in Heidelberg, mit 23 ist er außerordentlicher Professor und mit 24 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Berlin. In seinem Unterricht wendet er sich nicht nur an den Intellekt seiner Schüler, sondern ebenso an ihr Herz. Er fordert Leidenschaft und Empathie von ihnen.

Viele seiner Studenten sind älter als er, doch begegnet man dem gebildeten Mann, der mit der klassischen Professorenzerstreutheit durchs Leben geht, zeitlebens mit Hochachtung. Respekt genießt der Gelehrte nicht nur in der Universität, sondern auch auf der Straße. Als er wieder einmal tief in Gedanken versunken und schweigend eine Kutsche besteigt, fragt ihn der Kutscher: »Wohin wollen Se denn eijentlich, Männeken?« – »Nach Hause!« - »Und wo is det?«, fragt der Kutscher ungeduldig, doch der Fahrgast schweigt. Neander hat vergessen, wo er wohnt. Da kommt einer seiner Studenten, Neander ruft: »Ach bitte… - sagen Sie doch dem Kutscher, wo der Professor Neander wohnt.« Woraufhin der Kutscher sagt: »Also, det hätt ick doch ooch jewusst! Sie hätt´n nur sajen brauchen, dass Sie der olle Neander sind!«

Eine Frau hatte der Professor nicht, ihn umsorgte zeitlebens seine ledige Schwester Johanna, die sich hütete, ihren Bruder zur Selbstständigkeit zu erziehen, und die ihn stattdessen »wie ein kleines Kind« umsorgte. Wie wenig sie dem Geisteswissenschaftler in alltäglichen Dingen zutraute, zeigt folgende Anekdote, die in Berlin die Runde machte. Als die Schwester eines Morgens die Hose des Professors über dem Stuhl hängen sah, rief sie nach dem Hausmädchen: »Marie, Marie, laufen Sie sofort nach der Universität, der Herr Professor ist ohne Hosen ins Kolleg gegangen!« Das Mädchen tat wie befohlen, ließ den Professor aus dem Hörsaal rufen und sagte: »Ach Gott, Herr Professor, Sie sind ja heute ohne Hosen ausgegangen!«

Der Professor soll sich daraufhin beschämt zur Seite gedreht und den altmodischen Rock auseinander geschlagen haben, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dann habe er triumphiert: »Nein Marie, ich habe welche an.« Woraufhin Marie zurück zur Schwester lief und berichtete, der Professor habe die Misere wohl unterwegs bemerkt und sich ein paar Hosen gekauft. •




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