Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Mühlenhaupts Erinnerungen

Von den Zeitungsausträgern


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von Kurt Mühlenhaupt

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Morgens, wenn es hell wurde, torkelten die Besoffenen nach Hause. Kam das öfter vor, litt die Ehe darunter. Wenn einer jeden Tag besoffen war, lief gar nichts mehr, es sei denn, sie waren beide unterwegs. Dann hielt sich der eine an dem anderen fest. Arbeit fanden sie kaum.

Die Menschen am Chamissoplatz hatten eine Chance. Sie durften Zeitungen austragen, denn der Vertrieb brauchte Leute, die schon früh aufstanden. Zeitungen austragen war damals der letzte Husten. Aber wie sollten die Trinker sonst ihr Geld verdienen? Darum waren sie froh, daß sie Arbeit hatten.

Wenn sie aus der Kneipe kamen, schnappten sie sich ihren alten Kinderwagen und stritten noch ein bißchen miteinander, bevor sie loskarrten, hin zum Mehringdamm, wo die »Morgenpost« auf sie wartete. Beim Austragen verdienten sie gerade so viel, daß sie sich von Neuem besaufen konnten. Ganz nüchtern lief da selten was. Die Versöhnung fand auf der Straße statt, nicht im Bett.

Einer alleine hätte so eine Zeitungstour gar nicht geschafft, weil er sich irgendwo festhalten mußte. Die größte Schwierigkeit war immer, den richtigen Schlüssel zu finden, um ins Haus zu kommen. Dann stolperte man treppauf und treppab. Ein paar hundert Zeitungen mußten ausgetragen werden. Da hieß es aufpassen, nur der bekam eine, der sie vorher bezahlt hatte. Aber das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten. Es konnte auch sonst noch vieles daneben gehen.

Eine alte Zeitungsfrau berichtete: »In der Mittenwalder 9, da lauert jeden Tag ein oller Kerl im Morgenrock, er knöpft ihn nicht zu, er steht also fast nackt vor mir. Jeden Morgen das Gleiche. Ich wollte mehr, aber da ist nie was passiert. Und dann der Ärger mit den Hunden. Wenn einer beißt, interessiert das keinen, höchstens dann, wenn die Zeitung nicht im Kasten liegt. In der Regel sieht das so aus: Während Frauchen sich noch pudert, springt Bello einem schon entgegen und schnappt zu. Alles in allem, solcherart Erlebnisse sind inbegriffen bei den dreihundertneunzig Mark im Monat, die ich verdiene. Nur wenn ich Glück habe, bekomme ich noch was vom Sozialamt. Und noch was, ich lese keine Zeitung, ich gehe schlafen, wenn ich meine Arbeit getan hab.«

Die Zeiten haben sich geändert. Es ist eine Ehre und ein Privileg, wenn man noch Arbeit hat. Heute trägt mein Sohn Zeitungen aus, und ich bin sehr stolz auf ihn.

Entnommen aus Kurt Mühlenhaupts autobiographischem Werk in 11 Bänden, erhältlich im Kurt Mühlenhaupt Museum, Fidicinstraße 40


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