Februar 2022 - Ausgabe 236
Herr D.
Der Herr D. und die Rumkugeln von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. liebte Rumkugeln. Seit der Kindheit. Seit er, mit dem Einkaufen der Frühstücksbrötchen beauftragt, eines Tages beim Bäcker diese schwarzen Schokoladenkugeln sah. Und weil es Samstag war, und weil er sich jeden Samstagmorgen etwas Süßes aussuchen durfte als Belohnung für seine täglichen Botengänge, deutete er mit dem ausgestrecktem Finger auf die Kugeln mit den Schokoladenstreuseln. »Sind die für dich oder deine Mama?«, fragte die Bäckerin und stemmte die Arme in die karierte Schürze, woraufhin der kleine Herr D. instinktiv die erste Lüge seines Lebens aussprach: »Die sind für meinen Papa.« Die Rumkugel, die vorsichtshalber vor den Eltern versteckt und erst am Nachmittag mit Freunden im Park gegessen wurde, schmeckte nicht nur hervorragend, sie zeigte auch eine nachhaltig belebende Wirkung. Von diesem Tag an traf er sich an jedem Samstag mit einem immer größer werdenden Freundeskreis auf der Bank im Park. Verständlicherweise konnte der Herr D. auch in höherem Alter keiner Rumkugel widerstehen. Als er in Österreich studierte, legte er Kilometer zum einzigen Bäcker zurück, der zwischen Sachertorten und Mozartkugeln auch Rumkugeln anbot. In Frankfurt hatte er ebenso schnell wie in Bonn einen Bäcker mit Rumkugeln ausfindig gemacht, und als er nach dem Mauerfall mit seiner Regierung von Bonn nach Berlin ziehen musste, stieß er in Kreuzberg auf die Bäckerei Kasper, die echte Rumkugeln machte, für Minderjährige verboten! Der Bäcker war ein guter Mensch, der niemals Rumkugeln ohne echten Rum gemacht, niemals 40 Cent für eine Schrippe von seinen Mitmenschen verlangt und niemals seine Mitarbeiter schlecht bezahlt hätte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Bäckerei zu schließen. Nun gab es in der Bergmannstraße noch einen Bäcker mit ganz passablen Rumkugeln. Eines Tages aber wurden aus den Rumkugeln plötzlich »Streuselkugeln« mit künstlichem Aroma. Dennoch blieb der Herr D. Stammgast, was niemandem auffiel, denn obwohl der Herr D. nie etwas anderes als eine Rumkugel kaufte, fragten die schlecht gelaunten Verkäufer ihn jedes mal aufs Neue: »Was darf´s sein?« Der Herr D. blieb den Schokokugeln auch dann noch treu, als ihr Preis in kurzer Zeit von 75 Cent auf 1 Euro 23 kletterte. Bis ein schlecht gelaunter, ganz offensichtlich von den ewigen »Rumkugeln« des Herrn D. genervter Verkäufer behauptete, dass es schon lange keine »Rumkugeln« mehr gebe, sondern nur noch »Streuselkugeln«. »Dann muss ich eben woanders meine Rumkugeln kaufen!«, antwortete der Herr D. und fragte sich, warum die Verkäufer eigentlich immer so schlechte Laune hatten. Und warum sie nicht lächelten wie einst bei Kasper. Vielleicht fehlte es den Rumkugeln einfach an Rum. Oder fehlte es der Bäckerei an etwas anderem ? • |