Kreuzberger Chronik
Februar 2022 - Ausgabe 236

Hausverbot

Ein Hauch von Reeperbahn


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von Gerd Borchert

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Der Gast saß vorne am Fenster und blätterte in Mappen voller Zeichnungen, Skizzen und Zeitungsausschnitten. Es sah so aus, als hätte er sein Büro ins Yorcks verlegt, um Heizkosten zu sparen. Künstler haben es schwer in Zeiten wie diesen. Steffi, die zierliche Kellnerin, brachte ihm einen Calvados, wortlos, und der Gast nickte, wortlos.

»Ah, du bist es!« , sagte der Künstler, als er aus seinen Unterlagen aufblickte und die Brille zurechtrückte. Er musterte einen etwa gleichaltrigen Herrn mit altmodischer Hippiefrisur. »Man erkennt einen ja kaum noch mit diesen ständigen Masken im Gesicht!« Der Gast schob die Maske herunter und grinste.

Man sprach nicht lange über Maskenpflicht oder Impfpflicht. Schon drei Minuten später erzählte der Künstler von einem Abend auf der Reeperbahn, vor vierzig Jahren. »Der Türsteher schwatzte uns an, wir sollten doch reinkommen, es gebe Madame Kokett und ihre Kammerkatzen, und drinnen wäre alles noch leer. Der Kerl war ganz nett, wir also da rein und dann waren wir tatsächlich die einzigen Gäste, und die Mädchen vollführten auf der Bühne ihre Kunststückchen nur für uns. Alles ganz nett. Bis dieses Pärchen kam und sich hinter die Milchglasscheibe legte. Der Typ machte sich an die Arbeit, während sie unten stöhnte. Und wir saßen da an unserem Tisch und haben uns halb totgelacht, wie dieser puterrote Kopf da ständig über der Scheibe auftauchte, als mache er Liegestütz. Und irgendwann meint er dann allen Ernstes, wir sollten bitte aufhören zu lachen, er müsse sich konzentrieren….«

In diesem Moment kam ein Typ ins Yorcks, der zwei Köpfe höher und mindestens fünfzig Kilo schwerer war als Steffi und ihre beiden Gäste. Der Neue fand die Kellnerin offensichtlich attraktiv. Steffi zapfte ihm ein Bier und wandte sich der Buchhaltung zu, aber der Neue ließ nicht locker, erzählte von diesem und jenem und rückte mit jedem Schritt, den Steffi zurückwich, zwei Schritte näher.

Irgendwann, vollkommen unerwartet, vernahmen die Gäste im Lokal eine Stimme, die sie noch nie zuvor vernommen hatten. Eine sich durch alles bis in die hintersten Ränge bahnbrechende, schon durch ihre Lautstärke jeden Widerspruch vereitelnde Stimme, die alle im Raum verstummen ließ. Auch den neuen Zweimetermann.

Als sich die Gäste umsahen, da stand die kleine Steffi vor diesem Riesenkerl und drängte ihn mit jedem Wort, das sie ihm an den Kopf warf, einen Schritt weiter zurück bis zur Tür. So lange, bis er tatsächlich draußen auf der Straße stand, wo er noch eine Weile durch die Scheibe spähte und empört herumgestikulierte, während die Gäste und die Kellnerin sich amüsierten. Ein bisschen war es an diesem Abend wie einst auf der Reeperbahn. •

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