Dez. 2022/ 2023 - Ausgabe 245
Kreuzberger
Ali Ouazzae Alles kann, nichts muss
von Hans W. Korfmann
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Es ist so etwas wie ein Fazit. Die Lehre, die er den Kindern mit auf ihren Weg gibt. Wenn sie in der Schule schlechte Noten haben, wenn die Finger schmerzen beim Gitarrenspielen, wenn sie schon wieder kein Tor geschossen haben: »Alles kann, nichts muss.« Der Satz ist ein Elixier. Das, was bleibt zur Hälfte des Lebens, wenn Überflüssiges sich schon verflüchtigt hat. Ali Ouazzae wohnt seit vielen Jahren in der Fidicinstraße. »Aber ich wohne da nicht nur, ich lebe da!« Am Anfang hatte er noch kein Haus zum leben. Nur eines zum wohnen. Der Vater war immer am Arbeiten und nie zuhause. Die Mutter war auch nie da. Das kleine Bild des Hochzeitspaares an der Wand zeigte zwei hoffnungsvolle Menschen, aber eine Heimat ist das Haus in der Willibald-Alexis-Straße 10 nie geworden. »Einmal war ich zum Töpfern im Bethanien, da sah ich im Vorgarten eine riesige Ratte. Also bin ich über den Zaun geklettert, die wollte ich mir genauer sehen. Dabei bleib ich hängen und riss mir beide Hände auf. Der Sozialarbeiter brachte mich gleich ins Urban, aber als ich nach Hause kam, sagt meine Mutter nur: Wie siehst Du denn aus! Und knallte mir erst mal eine.« Die Mutter war eine schöne Frau, aber sie hatte es nicht leicht gehabt in ihrem Leben. Nicht, als sie 1942, mitten im Krieg, von Aachen nach Berlin flüchtete, und später auch nicht mehr. Selbst als Alis Bruder zur Welt kam und die Familie komplett schien, wurde das Haus nicht zur heilen Welt. Im Gegenteil: Karim, der einen viel dunkleren Teint hatte als sein Bruder, war todunglücklich über die Hautfarbe. Ali, so warf der Bruder es ihm später vor, sei immer bevorzugt worden: Ali, der Erstgeborene, Ali blond und blauäugig. Karim hatte kein Glück, letzten Monat haben sie ihn beerdigt. Der Vater stand am Grab und verstand es nicht. Er fragte: »Geht es Karim gut?« An diesem Tag war es, als hätte es diese Willibald-Alexis-Straße nie gegeben. Die Vergangenheit, die Kindheit. »Jeden Nachmittag, gleich nach der Schule – zu Essen stand sowieso nie etwas auf dem Tisch! - gingen wir zum Kicken. Da, wo jetzt die Schwiebusser Platte steht, die neuen Eigentumswohnungen. Und abends zogen wir dann durch die Kneipen und suchten unsere Eltern.« 1980 klingelte das Jugendamt an der Tür. Die Kinder kamen ins Haus Eulenspiegel, in Lichterfelde West. »Das war meine Rettung.« Das musste sein. Lichterfelde war ein sauberer Vorort mit Kindern reicher Eltern. Aber die Achtzigerjahre waren angebrochen, »und es gab im ganzen Haus nur noch eine alte »Kittel-Erzieherin«, die einen am Ohr zog«. Die anderen waren lauter »Strickpulli-Erzieher«, Männer mit langen Haaren und Bärten voller Müsliresten und Frauen in lila Latzhosen. Ali fühlte sich zunehmend wohler, erhielt irgendwann sogar eines der begehrten Einzelzimmer und baute mit Thomas, dem Hausmeister, sein erstes Hochbett. Alle hatten Zeit in diesem Haus und kümmerten sich um ihn. Sie erkannten seine Talente und brachten ihn zur Lichterfelder Sport Union. Ali war ein guter Fußballer, er war schnell, kämpfte sich durch, spielte Tag und Nacht bei Schnee und Eis in kurzen Hosen. Später irgendwann wurde er von den Preußen angeworben und zum Probetraining beim 1. FC Köln eingeladen. Das Wichtigste an alldem war, dass er sich für seinen Namen nicht mehr zu schämen brauchte. Sie riefen es über den ganzen Platz: »Ali ist frei! Da drüben steht Ali! Spiel zu Ali!« Sein Name hatte plötzlich einen ganz anderen Klang. In der Schule war es immer schlimm, wenn die neuen Schüler sich vorstellen mussten und alle ihn ansahen, weil er blond war und nicht aussah wie Ali Baba oder die vierzig Räuber. Wenn die Lehrer lachten und sagten: »Nein, du heißt doch eigentlich Alexander!« In solchen Momenten hätte Ali gerne wie Karim ausgesehen. Karim hat das nie verstanden. »Ich habe nachgelesen: Die Chance, dass das Kind eines Afrikaners und einer Deutschen blond und blauäugig wird, ist Tausend zu Eins.« Weil ihn diese Sache mit dem blonden Haar ein Leben lang beschäftigt hatte, stibitzte Ali eines Tages ein Haar vom Jackett des Vaters, zupfte sich selbst eines aus und ließ die Beweisstücke analysieren. Ali war tatsächlich der Sohn von Bouchaib Ouazzae. Lichterfelde war die Rettung gewesen. Ali war schlecht im Aufräumen, aber gut in der Schule und der Beste im Fußballverein. Die Freunde, die er auf dem Rasen kennen lernte, kamen nachmittags in die Eulenspiegel-Villa, wo es den großen Garten gab und sogar einen Fußballplatz. Er besuchte das Goethe Gymnasium und war in der elften Klasse, als Natalie auftauchte, die schöne Tochter einer schönen Schauspielerin. Die Schulnoten wurden schlechter, auch auf dem Rasen stand Ali plötzlich im Abseits. Er war 17, vor ihm lag ein Fuß- ballerleben, aber da war Natalie, und Natalie sagte: »Ich oder Fußball!« Er entschied sich für Natalie. Das musste sein. Zwei Jahre dauerte es, da lernte Natalie einen anderen Einwanderersohn kennen. Und der war gerade Weltmeister im Halbschwer-gewicht geworden und hieß Graciano Rocchigiani. Damit hatte Ali nicht nur den 1. FC Köln, sondern auch Natalie verloren. Auch das musste wohl so sein. Inschallah1. So begann der unaufhaltsame Abstieg des Ali Ouazzae. Er verließ die Schule, begann drei Lehren, brach wieder ab und war plötzlich ohne Beschäftigung. Eines Tages stand die Sozialarbeiterin vor der Tür und teilte ihm mit, dass er keine Unterstützung mehr erhalte. Der Frau war das egal. »Die kam sowieso nur einmal im Monat, um mit uns essen zu gehen. Die war schon richtig fett vor lauter Fressen!« Er flog aus der Jugend-WG, stand auf der Straße, in der Hand einen Gutschein für eine Übernachtung im Obdachlosenheim. Jetzt fehlte nicht nur ein Zuhause, jetzt fehlte sogar ein Haus zum Schlafen. In seiner Not rief er die Freunde aus Lichterfelde an. »Der eine wohnte in einer 13-Zimmer Villa!« Aber keiner hatte Platz. Alle stotterten am Telefon herum. Das war ein entscheidender Moment in Alis Leben. »Da passierte was!« Ali geriet ins Taumeln, suchte Zuflucht im Haus Sonnenschein in der Nähe der Gneisenaustraße, klaute im Supermarkt, trat Türen leerstehender Wohnungen ein und »war schon polizeibekannt.« Aber er verstand: Er musste »wieder bei Null anfangen«. Und da sagte die Frau auf dem Arbeitsamt, sie suche noch einen Betreuer für ein Ferienlager mit Jugendlichen außerhalb von Berlin. Die Jungs mochten ihn sofort. Ali war kaum älter als sie, er sprach ihre Sprache, und er kannte sich aus mit diesem Leben in einem großen Haus mit vielen Leuten. Ali wusste, wie ein Haus zur Heimat werden kann. Als er mit ihnen Fußball spielte, lag plötzlich ein Junge, der gefault worden war, weinend in seinem rechten Arm, und ein Mädchen, das den Ball an den Kopf bekommen hatte, weinend in seinem linken. »Da wusste ich: Das ist es! Das habe ich gelernt. Das kann ich.« Trösten. Mut machen. Er beschloss, Erzieher zu werden. Vielleicht war das das erste Mal, dass etwas geschah, was nicht nur geschehen musste, sondern geschah, weil er es unbedingt wollte. Er schloss die staatliche Fachschule für Sozialpädagogik mit 2,0 ab und absolvierte eine Weiterbildung zum Integrationserzieher. Drei Tage in der Woche sitzt er mit Schülern im Klassensaal der Clara-Grunewald-Schule und legt ihnen die Hand auf die Schulter, denn »das hilft immer, wenn man eine Hand auf seiner Schulter spürt!« Wenn sie schlechte Noten haben, sagt er, dass das nicht schlimm ist. Dass das passieren kann. Dann sagt er: »Alles kann, nichts muss!« Und lächelt. Als kürzlich ein Vater kam und fragte, wo der Helm seines Sohnes sei, sagte Ali: »Ich habe mich den ganzen Tag mit ganzem Herzen ihrem Sohn gewidmet. Aber den Helm müssen Sie schon selber suchen!« Ali weiß, wie sich Kinder fühlen, die noch kein Haus zum Leben haben. So wie Tsepo und Tsepiso, die Kleinen aus Namibia, deren Mutter als Hauswirtschaftlerin mit einem Diplomatentross einreiste. Der Vater ist noch in Afrika und die Mutter arbeitet von früh bis spät. Ali hat sich um den Aufenthaltsstatus der halbierten Familie gekümmert und sich der Kinder angenommen. »Die waren total fremd unter lauter Weißen!« Jetzt grinst Tsepo schon von weitem, wenn er Ali sieht, schmeißt die Schultasche in die Ecke und ruft: »Na, Ali, du alter Looser!« Es war der erste Satz, den Tsepo gelernt hatte. Ali hat den Job von der Pike auf gelernt. Zuerst in Lichterfelde und später bei Ute, der Ausbilderin in einem Schülerladen der KaK, der Kinder aus Kreuzberg. »Sie war zwei Jahre älter als ich und lud mich auf eine Party ein. Als ich reinkam mit meiner Flasche Kadarka aus dem Späti, saß da eine ziemlich verschlafene Gesellschaft. Wir haben erst mal ordentliche Musik aufgelegt, alle fingen an zu tanzen. Das war vor über zwanzig Jahren!« Inzwischen ist die Tochter von Ute und Ali groß, die Eltern aber wohnen noch immer in der Fidicinstraße, »gar nicht weit von der Straße, in der ich aufgewachsen bin.« Doch die Fidicinstraße wurde sein Zuhause, mit dem Wasserturm und Enzo vom Kleinen Weinstock und Konstanze, Gesine, René, Michael, Tim, Sönke, John und allen anderen, die da sitzen. Und dann ist da noch der Hof, auf dem sich an lauen Sommerabenden die Hausbewohner treffen. Manchmal ist es wie damals im Eulenspiegel-Haus. Es ist schon ein paar Jahre her, da saßen sie im Hof, Ute, Ulli, Lesly und Ali. Sie tranken und erzählten. Es war schon spät, »da meinte jemand: Was machen wir eigentlich im Winter, wenn wir nicht mehr draußen sitzen können?« Sie kamen auf die Idee, ein Adventssingen zu veranstalten, von Balkon zu Balkon, die ganze Fidicinstraße lang. Am 3. Advent 2010 standen die Nachbarn der Fidicinstraße mit Textblättern auf den Balkonen sangen Weihnachtslieder in die Nacht hinaus. Und weil auch die Menschen aus den Seitenflügeln und den Hinterhäusern und Nachbarhäusern mitsingen wollten, kamen Jahr für Jahr mehr, standen auf der Straße und sangen. Enzo kochte Glühwein, verteilte Gesangsblätter, und Renés Kinder buken Waffeln. Auch einige von Alis Kindern aus der Schule sind dabei. Manchmal sogar die, die längst ein eigenes Zuhause haben. Die längst selbst Kinder haben oder selbst schon wieder Erzieher geworden sind. Sie haben ihren Weg aus der Heimatlosigkeit gefunden, über die Musik oder das Theater oder das Boxen. Oder über den Fußball. Ali spielt noch immer, zweimal die Woche, in der Seniorenmannschaft von Hansa 07, »der ältesten Fußballmannschaft Kreuzbergs.« Da rufen sie immer noch: »Ali ist frei! Da drüben ist Ali!« Ali weiß, was er dem Club zu verdanken hat, und würde gerne etwas zurückgeben. Er könnte vielleicht als Trainer am Feldrand stehen und jungen Spielern, wenn sie nach verpatztem Spiel traurig in der Kabine sitzen, die Hand auf die Schulter legen und sagen: »Ey, du musst nicht in jedem Spiel Tore schießen. Weißt du, ich habe in meinem Leben viel gemusst. Aber Fußball habe ich gespielt, weil ich es wollte. Denk einfach immer: Alles kann, nichts muss!« • |