Kreuzberger Chronik
April 2022 - Ausgabe 238

Strassen, Häuser, Höfe

Willibald Alexis Straße 27


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von Werner von Westhafen

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Erinnerungen an eine Kindheit

Rosa Rongsted steht vor der Willibald-Alexis-Straße Nr. 27, schräg gegenüber ist der Chamissoplatz. Sie hat das Haus ihrer Kindheit verlassen, als sie 14 Jahre alt war. Die kleine Familie zog nach »jwd« – janz weit draußen - nach Buckow an den Stadtrand. Kreuzberg hatte das Mädchen schnell vergessen, Sehnsucht nach der Zweizimmerwohnung war nie aufgekommen.


Viele Jahre später kehrte sie noch einmal zurück, um sich zu erinnern, wie das eigentlich damals war in diesem Haus, in dem Mutter Schulze aus der zweiten Etage der kleinen Rosa auf die Welt verhalf, weil die Hebamme zu spät gerufen wurde. Als sie das Treppenhaus sieht, tritt alles wieder deutlich hervor aus den Nebeln der Vergangenheit. Sie sieht ihn noch vor sich, links im Treppenhaus, den »Stillen Portier«, den kleinen Holzkasten mit der Glasscheibe, in dem die Namen aller Bewohner eingetragen waren, systematisch nach Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäude aufgelistet und etagenweise fein säuberlich angeordnet. Ortsunkundige Besucher mussten somit nicht alle Aufgänge hinauf- und hinunterlaufen, um den Gastgeber zu finden.

Auch für die Postboten war das Kästchen mit den Namen und Etagen unerlässlich. Der Stille Portier löste die alten Damen und Herren ab, die hinter einer kleinen Scheibe im Eingang eines Hauses saßen und über Kommen und Gehen wachten und, wie an der Rezeption eines Hotels, Fremden Auskünfte erteilten. In den neuen Häusern gibt es keine Portiers mehr, Besucher und Postlieferanten irren oft lange durch die Treppenhäuser auf der Suche nach einem Mieter.

Gegenüber des Portiers »betrat man Rechterhand über ein paar Stufen – durch eine Schwingtür – das Treppenhaus des Vorderhauses. Der obere Teil dieser Türen, wie auch die Fenster des Aufgangs, trug mit Ornamenten verzierte Glasscheiben. Ein roter Treppenläufer bedeckte die Stufen, gedrechselte Stäbe schmückten das Treppengeländer. Auf jeder Etage wohnten jeweils zwei Mietparteien. Die Wohnungen verfügten meist über zwei bis vier Zimmer, Küche, Innentoilette und ein Bad mit Badeofen zum Heizen des Badewassers. Stuck zierte die Decken der Wohnräume, die Raum und Luft boten. Insgesamt waren Fenster, Türen, Fußboden und Öfen aus besserem Material und aufwendiger ausgeführt als in den Hinterhöfen.«

Rosa wohnte leider nicht im schmucken Vorderhaus. Rosa wohnte »Hinterhaus vier Treppen« und mit Blick auf den Hof. Die Hinterhöfe waren eine andere Welt. In der Nr. 27 war diese Welt gerade mal 240 Quadratmeter groß, ein finsterer, kleiner Hof, in dem die Remise den meisten Platz einnahm. »Die Mauer zur Linken teilte die beiden Hinterhöfe der Nummern 27 und 28. Die dort befestigte Teppichklopfstange konnte ausgeklappt werden. Hier standen auch die Müllkästen. Ein Schild wies uns Kinder darauf hin, dass das Spielen im Hof verboten war. Ansonsten grauer Zement, graue Fassaden, keine Hinterhofbegrünung, nur manchmal ein paar armselige Grünlilientöpfe, die ein Mieter dort hingestellt hatte.«

Lag auf den Treppen des Vorderhauses ein roter Läufer, war es im Hinterhaus Linoleum. Wohnten im Vorderhaus zwei Mietparteien auf einer Etage, gab es im Hinterhaus vier. Die Wände waren mit billiger, brauner Ölfarbe gestrichen, zwischen den Etagen im Treppenhaus lagen die Türen zu den Gemeinschaftstoiletten der Arbeiter und Handwerker, die noch bis in die Sechzigerjahre hinein auf Stube und Zimmer wohnten. Rosa Rongsted gehörte zu einer dieser Familien, der Gang zur Toilette war ihr jedes Mal unangenehm. »Es war stets ein peinlicher Moment, einen Mieter zu grüßen, während man das Klo verließ, vor allem, wenn man die Klorolle unter dem Arm trug.«

»Betrat man das Hinterhaus, stand man in einem schmalen, kurzen Flur, der zu einer Treppe führte. Vor dem Aufgang, auf der linken wie auf der rechten Seite, wurden zwei Türen sichtbar, hinter denen zwei düstere Parterrewohnungen lagen. Links wohnte eine alte Frau, die ich nie zu Gesicht bekam. Sie hatte mehrere Katzen. Wenn die Tür offenstand, entwich der Wohnung ein bestialischer Geruch nach mangelhafter Körperpflege, wochenlang getragener Kleidung und nach Katzenpisse.

In der dritten Etage, direkt unter uns, wohnte ein skurriles Paar. Wir hörten oft ihre lautstarken Ehestreitigkeiten. Oftmals flog das eine oder andere Möbelstück durch das Fenster in den Innenhof. Alle Mieter nahmen regen Anteil an dem Spektakel. War das Kriegsbeil begraben, sahen wir den Mann die Bruchstücke des Mobiliars sorgsam nach oben tragen. Kam der Mann stark betrunken nachhause, stand er im Hof und rief: Erna, hol´ mir ruff!

Im zweiten Stock wohnte Familie Schulze. Mutter Schulze, meine Hebamme, verließ die Wohnung nie. Aufgrund ihrer Leibesfülle schämte sie sich, aus dem Haus zu gehen. Ihr Mann, ein Schneider, war dünn wie sein Nähgarn, die Kinder kauften die notwendigen Dinge ein. War Mutter Schulze mit dem Kochen und mit ihrer Hausarbeit fertig, nahm sie ihren Logenplatz ein. Die Unterarme auf ein Sofakissen gebettet, schaute sie stundenlang aus dem geöffneten Fenster in den Hinterhof. Bis auf die Leute, die den Hof betraten oder verließen, gab es jedoch nichts Aufregendes zu sehen, aber sie wusste immer, wer kommt und geht.« •

Literatur: Rosa Rongsted, »Hinterhaus vier Treppen «, - siehe auch Seite 9


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