April 2022 - Ausgabe 238
Kreuzberger
Anja Kießling Kreuzberg war kein Thema damals
von Ina Winkler
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Es ist einfach zu viel passiert in den paar Jahren! Sie ist ja gerade mal 66! Doch wenn sie sich erinnert, überschlagen sich die Ereignisse, folgt auf eine Erinnerung sofort die nächste, aber nicht, dass sich diese Erinnerungen chronologisch brav aneinanderreihen. Da müsste man aufräumen, ordnen, aussortieren, um das alles in einem Leben unterzubringen, diese vielen Namen, an denen so viele Geschichten hängen: Nina Hagen, Leo Lehr, Kalle Kalkowski, Inga Rumpf, Namen von Bands wie Tangerine Dream, Interzone, Karthago oder Agitation Free. Ein Universum an Geschichten, ein einziges heilloses, buntes, phantastisches Durcheinander. Deshalb schenkte ihr Dirk Lehnert, der Chef bei Goldnetz, eines Tages dieses Buch, auf dessen Einband ein Satz von Karl Valentin stand: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« Als sie es aufschlug, waren die Seiten leer. »Jetzt schreib das bitte alles auf, was du da erzählt hast!«, sagte Dirk. »Damit da mal Ordnung reinkommt.« In nur zwei Jahren hat Anja Kießling mit ihren Kolleginnen auf dem Flughafen Tegel und dem BER aus den Spendencontainern Pfandgut im Wert von einer Viertelmillion eingesammelt für die Armen der Stadt. Aber nebenbei hat sie sich erinnert und geschrieben, Anekdoten aus ihrem Leben. Vielleicht wird sie diese kurzen Episoden einmal aneinanderreihen zum Roman. Ihre erste Schule war die Bonhoeffer-Grundschule, benannt nach dem Nervenarzt. Sie war heilfroh, als sie da wegkam, »weil die von der Bonhoeffer waren natürlich alle plemplem.« Die nächste Station war die Waldschule. Die lag tatsächlich im Wald, »lauter kleine Pavillons« mit Blick ins Grüne. »Ich schaute ständig raus und träumte, was ich sehr gut konnte. Das stand sogar in meinem Zeugnis.« Während die Wildschweine zutraulicher wurden und bis ans Fenster des Klassenzimmers kamen, wurde Anja größer. Und weil es die Sechzigerjahre waren, die Zeit der »Hippies und Gammler«, besprenkelte sie sich mit Sandelholz und Patchouli, trug lange Kleider und T-Shirts ohne BH, woraufhin die Mutter eines Morgens sagte: »Kind, trag doch einen Büstenhalter. Manchmal ist weniger mehr!« Auch der Direktor war dieser Meinung und empfing sie eines Morgens mit den Worten: »Ich verstehe nicht, wie deine Mutter dich so in die Schule gehen lässt.« Die T-Shirts und die indischen Gewänder hat Anja Kießling im Wandel der Zeiten abgelegt, aber das Stirnband, das einst die blonden Haare jenseits des Mittelscheitels in zwei lange, blonde Strähnen teilte wie bei Joni Mitchell in Woodstock, trägt sie heute noch. »Weil mir beim Schlagzeug sonst der Schweiß in die Augen läuft!« Vielleicht aber auch dieses Gitarristen mit dem Stirnband wegen, den sie damals schon mochte. »Wenn ich ein Kind bekommen hätte und wenn das ein Junge gewesen wäre, dann hätte ich ihn Keith genannt. Keith Kießling!« Wahrscheinlich hätte sie schon mit diesem Namen den Grundstein für eine erstaunliche Gitarristen-Karriere gelegt. Obwohl der Schuldirektor keinen Sinn für Rock´n´Roll hatte, gab es an der Waldschule mit den Wildschweinen auch eine Schulband: Agitation Free. Der Name dieser Band steht heute auf einer Gedenk-tafel in der Pfalzburger Straße, die Heinz Zimmer, Filmmusikkomponist und zweifacher Oskarpreisträger, seinen ehemaligen Kollegen gestiftet hat. Darauf steht: »In diesem Haus befand sich in den Kellerräumen von 1968 bis 1984 das Electronic Beat Studio – die Berliner Keimzelle für Elektronische Musik.« Am Schlagzeug der Schulband saß Christopher Franke, »und wenn der lostrommelte, dann dachtest du, da startet ein Motorrad, so schnell!« Ein paar Jahre später trommelte der Waldschulschüler bei der Kult-Band Tangerine Dream. Anja allerdings schielte eigentlich weniger nach Schlagzeugern als nach Gitarristen. Eines Tages, Anfang der Siebzigerjahre, schenkte ihr »Voss«, eigentlich Wolf Bernhard Fuchs, die erste kleine Liebe ihres Lebens, eine Klampfe mit Nylonseiten. Voss selbst spielte klassische Gitarre, »ganz wunderbar. Er brachte mir auch die ersten Akkorde bei«. Von da an saß Anja auf ihrem Bett und übte, während auf der elterlichen Stereoanlage im Wohnzimmer Bob Dylan sang und auf dem kleinen Plattenspieler im Kinderzimmer Keith Richards von den Stones die Seiten zupfte. Und dann schenkte ihr jemand eine Tabla. Das war der Beginn ihrer Schlagzeugerkarriere. Zwar hat Anja Kießling immer einen Nebenjob gehabt, hat als Tresenkraft gearbeitet, zuerst bei Frankes, einer Studentenkneipe mit Zillebildern, wo sie zapfen lernte, später im Café am Ufer. Oder sie putzte bei ihrer Klavierlehrerin, saß bei Nina Hagen an den Lichtschaltern oder bei Jim Rakete im Büro. Oder sie geht eben Dosen sammeln. Aber das alles sind Nebenjobs, hauptberuflich war sie immer nur Musikerin. Tabla und die Klampfe waren nicht die ersten Instrumente. Es begann mit Klavierunterricht in der Spreetalallee, später folgte ein Rockgesang-Studium an der Hamburger HDK bei Inga Rumpf. Und natürlich verliebte sie sich ständig in Musiker. Bis sie irgendwann selbst auf der Bühne stand. »Da war eine Session bei Loretta am Wannsee, im Biergarten. Ich spielte die Tabla. Da merkte ich, dass ich was kann!« Auch Konstantin Bommarius, Schlagzeuger bei Karthago, bemerkte ihr Talent. Sie traf ihn eines Abends in der Dreier-WG ihres klassischen Gitarristen. Und weil sich Bommi in das hübsche Hippiemädchen verliebte, entführte er sie nach Kreuzberg. Kreuzberg war damals das Ende der Welt, »finster und gruselig«, dahinter lag Russland. Es gab eigentlich keinen Grund, das Westend zu verlassen, hier lag ja alles vor der Haustür, das Kant Kino, der Sportpalast, die Eissporthalle, die Waldbühne. Rod Steward, die Stones, Frank Zappa... - »Kreuzberg war kein Thema damals.« Aber dann kam Bommi und nahm sie mit. In ein Land, in dem es Döner gab und flache Brote. Das war nicht mehr Berlin, das war der Orient. Die Erinnerung an diese erste Kreuzberger Nacht steht gleich am Anfang ihres Buches. Sie waren in die U-Bahn gestiegen und kamen plötzlich aus dem Tunnel heraus »ins Licht. Die Hochbahn legt sich schief in die langen Kurven, an einigen Stellen kreischen die stählernen Räder auf den Geleisen markerschütternd: Kottbusser Tor – Görlitzer Bahnhof – Endstation Schlesisches Tor.« Sie besuchten einen Freund, Uli, »im dunkelsten Viertel von SO36 hinter dem Görlitzer Bahnhof und kurz vor der Mauer in der Sorauer Straße. Uli wohnte im Hinterhof im vierten Stock unterm Dach. Küche – Stube. Seine hauptsächliche Wohnungseinrichtung war eine riesige Stereoanlage, auf der höllenlaut Bad Company, Steve Miller und Ähnliches lief.« Bommi nahm Anja mit in den Proberaum am Paul-Lincke-Ufer, »in den Kellern unter Schnaftes Laden und der Morgenrot Kneipe«. Bommi zeigte ihr, wie man die Sticks hielt. »Ich wollte ja nicht ewig nur Groupie sein!« Also gab er ihr Schlagzeugunterricht. »Manchmal machten wir nen Drum-Battle«, fünf Schlagzeuger vor fünf Schlagzeugen in einem Raum! »Das war ein Krach!« Danach saßen sie oben in der Kneipe, »wo die Trommler um den Elefanten herumstehen, ihr Feierabendbier trinken und sich zur Freude der restlichen übriggebliebenen Gäste in Trommlersprache unterhalten. Brrrta Brrrta Brrrta Bomm… da da - da da - da da – pasch – drrrrrrRRRRRRrrrrrrrrrrRRRRRRR!« Bommi war die erste große Liebesgeschichte. Und dann kam Leo. Leo Lehr. Die ganz große Liebesgeschichte. Sie sah ihn mit seiner Gitarre auf der Bühne stehn und es war um sie geschehn. Jetzt tauchte sie tief ein ins Kreuzberger Leben. Leo hatte eine Fabriketage gemietet in der Köpenicker Straße 54. Goldene Jahre: »Man mietete ein Stück von der Etage und nutzte die gesamte Fläche. Das interessierte damals niemanden«, es stand eh alles leer. Leo war gerade dabei, neben dem Proberaum ein schalldichtes Studio einzubauen. »Zur Isolierung nahmen wir Reste von Kogan – wir nannten die immer Klogarn. Das war so eine türkische Strickwarenfirma ein Stockwerk unter uns, die goldenen und silbernen Glitzerfäden waren überall in der Etage verteilt.« Zwar durfte offiziell niemand da wohnen, aber Leo hatte ein riesiges Hochbett über die Schaltpulte gebaut. »Die Lautsprecher hatte er in die Wände integriert, Studio und Proberaum waren durch schalldichtes Glas gestrennt. Das war alles superprofessionell!« Leo war »die Liebe meines Lebens«. Irgendwann stand Anja trotzdem heulend bei Gabi Mehlitz vor der Tür. Gabi hatte die Etage über Leo und war die Gitarristin der Gabys. »Die hat mir damals das Leben gerettet! Ich bin quasi bei ihr eingezogen.« Liebe kann so schmerzhaft sein. Nach sieben Jahren ging es auseinander. Leo war der Gitarrist von Interzone. Zusammen mit Anja am Schlagzeug gründete er die Shares, eine Formation, die 1979 im Quartier den Berliner Senatsrockwettbewerb gewann. Sie bekamen 1000 Single-Pressungen gratis. »Goldene Jahre. Da gab es sogar noch einen Rockbeauftragten des Berliner Senats.« Als Anja 1978 mit Kalle Kalkowski auftrat, diesem unsterblichen Rock´n´Roller, für den Jim Rakete die Fotos machte - die blonde Anja im kurzen Röckchen auf dem Podest hinter dem Schlagzeug - schrieb der Tagesspiegel: »Anja haut auf die Pauke«. Bild ergänzte: »Die blonde Anja an den Trommeln«. In die Charts schaffte es Anja weder mit den Shares noch mit Sportpalast. Auch nicht mit den Gabys, dieser bunten, ständig wechselnden Truppe außerordentlicher Musikerinnen um Gabi Mehlitz. »Manche sprechen mich heute immer noch mit Gabi an!«, sagt Anja. Doch auch die Zeit als Gabi ist längst Vergangenheit: Ebenso wie die Straßen ohne Pflastersteine, die Zeiten ohne BHs, die billigen Dachetagen. Nicht einmal Voss, die erste kleine Liebesgeschichte, ist geblieben. Auch Bommi nicht, die erste große Liebe. Er stürzte vom Felsen, auf einer Party über dem Rhein. Und Leo, die zweite, die ganz große Liebe - »Wir waren schon lange getrennt, aber wenn wir uns trafen, setzte er sich zu mir und sagte immer noch Kieselchen zu mir« – wurde vom Auto überfahren, 1988, am Oranienplatz. Geblieben sind Platten, CDs, Fotografien. Ein Buch mit einem Zitat von Karl Valentin, voller Erinnerungen. Fast fühlt es sich an, als wäre das meiste vorüber. Dabei ist sie erst 66. Aber manchmal geschieht etwas, das die Geschichte plötzlich noch ein Stückchen fortschreibt. So wie die Veröffentlichung von Letzte Ausfahrt. »Leo war ganz begeistert gewesen von dieser Platte, alles war fertig, und dann zog Wolf Wondratschek die Texte zurück«. 40 Jahre ist das jetzt her, 40 Jahre lang lag das Material im Keller, Livemitschnitte, Studioaufnahmen aus der Köpenickerstraße. Anja hat nicht vergessen, dass da noch ein Schatz lag. Jim Rakete auch nicht. Und der ließ nicht locker. Immer wieder fragte er bei Wondratschek an. Und dann erschien 2019 tatsächlich noch diese letzte Platte von Interzone. Mit Leo an der Gitarre. • |