Kreuzberger Chronik
April 2022 - Ausgabe 238

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Seniorenwahl


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von Reiner Schweinfurth

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Im März wurde gewählt. Doch die Wenigsten wussten von der Wahl, bei der immerhin mehr als 40.000 Friedrichshainer und Kreuzberger ihre Vertreter wählen sollten. Kaum einer kennt die Kandidaten.

Die Dame im Rudi, der Begegnungsstätte in Friedrichshain, murrt. »Schon wieder ‘n Kreuzberger!« Die Frau ist eine der vier Wählerinnen, die sich am Samstagvormittag anlässlich der Vorstellung der Kandidaten für die Seniorenvertretung in der Begegnungsstätte eingefunden haben. Die Friedrichshainerin hat Recht mit ihrem Kommentar: Tatsächlich kommen die meisten Bewerber für das Seniorengremium aus Kreuzberg. Es war schon mal ausgeglichener zwischen Ost und West, aber »manche haben einfach genug, hier ständig gegen Windmühlen zu kämpfen«, sagt eine Vertreterin der Volkssolidarität, die sich schon seit vielen Jahren ehrenamtlich bemüht. Meist umsonst.

Die aufgezwungene Bezirksreform des Jahres 2001, die Friedrichshain und Kreuzberg zu einem Bezirk verschmolz, hat noch zu keiner großen Harmoniegemeinschaft geführt. Die Bevölkerungen und ihre Netzwerke unterscheiden sich beträchtlich, und der Großteil der staatlichen Aktivitäten für Seniorinnen und Senioren findet noch immer in Kreuzberg statt. Hier sitzen offensichtlich die Sozial-Profis, die sich auskennen mit Migration, Obdachlosen, Mietinitiativen, mit Anträgen, Fördertöpfen, Quartiersmanagement und so weiter. In Friedrichshain geht es bürgerlicher zu.

Zwar haben die Grünen und die Linken die absolute Mehrheit im Bezirk, doch für die Alten ist noch nicht viel herausgekommen. Die jungen und eifrigen Szene-Lobbyisten rund um das RAW und die Simon-Dach-Straße haben andere Probleme als Barrierefreiheit und altersgerechte öffentliche Toiletten. Klingt ja auch nach Stützstrumpf und Inkontinenz.

Die Einstellung der Öko-Hipster wird sich wandeln müssen, denn die Stimmen der Senioren werden lauter. Schon im Dezember des Jahres 2020 waren exakt 42.366 von bald 300.000 Einwohnern im Bezirk mehr als 60 Jahre alt. Tendenz steigend. Und all diese mindestens 60jährigen Friedrichshainer und Kreuzberger sind alle fünf Jahre dazu aufgerufen, eine Vertretung zu wählen, die ihre Rechte durchsetzen soll. Mit Bundestagswahlen oder Landtagswahlen hat das Verfahren allerdings wenig zu tun. Viele Bürger wissen nicht einmal, dass es diese Wahlen gibt. Wahlplakate fehlen, die Medien berichten so gut wie nie, und die unspektakuläre Benachrichtigung des Bezirksamtes, die Monate zuvor in den Briefkästen der älteren Kreuzberger und Friedrichshainer gelandet ist, ist schnell vergessen.

Das erklärte Ziel der zu wählenden Seniorenvertretung sei, so der Bezirk, »die aktive Beteiligung der Berliner Seniorinnen und Senioren am sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben zu fördern, die Erfahrungen und Fähigkeiten zu nutzen, die Beziehungen zwischen den Generationen zu verbessern, die Solidargemeinschaft weiterzuentwickeln sowie den Prozess des Älterwerdens in Würde und ohne Diskriminierung unter aktiver Eigenbeteiligung der Berliner Seniorinnen und Senioren zu gewährleisten.« Das hört sich nett an. Doch einen Rechtsanspruch der Alten gibt es nicht. Es gibt lediglich ein Rederecht in den Bezirksausschüssen, nicht in der Bezirksverordnetenversammlung. Anträge können seitens der Senioren auch keine gestellt werden. Die Möglichkeiten, tatsächlich ins politische Geschehen einzugreifen, sind rar. Und so wundert es auch nicht, dass die Fraktionen im Rathaus wenig mehr als ein freundliches Lächeln übrighaben für die Alten, die sich für die Alten einsetzen.

Wirklich ernst scheint man in den Rathäusern die Senioren und die Wahl ihrer Vertreter nicht zu nehmen. Über einen Alibi-Status ist die Altenvertretung noch nicht hinausgekommen. Wirklich mobilisieren möchte man die Rentner nicht. Das wurde im März deutlich. Die Wahlbeteiligung in Berlin lag gerade mal bei vier Prozent der Wahlberechtigten. Das lag nicht nur daran, dass man sie zunächst nach Reinickendorf ins Wahllokal schickte, weil man im zentralen Postdienstleistungszentrum den falschen Knopf gedrückt hatte.

Es gab noch mehr Sand in der Wahlmaschine. Gleich vier Veranstaltungen, auf denen sich die Kandidatinnen und Kandidaten vorstellen sollten, wurden wegen der Ansteckungsgefahr abgesagt. Obwohl überall schon Kneipen, Theater oder Schwimmbäder wieder geöffnet hatten und der Bezirk über genügend Räume verfügt, in denen Bewerberinnen und Bewerber sich dem Wahlvolk hätten zeigen können.

Der dann eilig installierte Online-Ersatz war blamabel, weil der Link nur den Kandidatinnen und Kandidaten, sowie einigen Bezirksamtsvertretern bekannt war. Die wählende Masse der Kreuzberger Senioren blieb außen vor. Nachträglich ins Netz gestellt wurde die Vorstellung auch nicht, denn man hatte es versäumt, das Ganze aufzuzeichnen. Um den Schein einer Wahlveranstaltung aufrecht zu erhalten, fanden danach immerhin zwei ganz reale Treffen statt.

Allerdings standen statt der ursprünglich angekündigten 20 Kandidatinnen und Kandidaten plötzlich nur noch 19 auf der Liste. Es sei, so hieß es, äußerst kompliziert, dies zu erklären. Sicher ist: Hätten die Verantwortlichen die Wahlveranstaltung so ernst genommen wie die ihnen auferlegten Hygiene-Regeln, wäre das nicht passiert.

Doch wirklich schlimm ist das gar nicht. Letztendlich sind nämlich weder die Stimmen der Wähler noch die Anzahl der Bewerber allein entscheidend. Wer am Ende in der Seniorenvertretung des Bezirks sitzen wird, hängt nur bedingt vom Wahlergebnis ab. Das letzte Wort hat der stellvertretende Bürgermeister. Die gewählten Kandidatinnen und Kandidaten sind nur »Berufungsvorschläge«. Sie müssen nicht berufen werden. Es klingt vielleicht wohlfeil, die Behörden für Fehler und Versäumnisse in dieser Seniorenwahl zu rügen, Bürokratie ist eben so. Nur: demokratiefördernd ist so etwas nicht!

Ein Vergleich mit Wahlen, bei denen es »wirklich« um etwas geht, ist ernüchternd. Bei der Bundestagswahl etwa gibt es für jedes Jahr der Legislaturperiode pro Zweitstimme 86 Cent, sobald 0,5 Prozent der Wahlberechtigten eine zugelassene Partei gewählt haben. Schon in der Vorbereitung wird nicht gespart, Millionen Euro werden ausgegeben, um Demokratie zu organisieren. Etwas Vergleichbares soll es bei der Seniorenvertretung nicht geben. Da gibt es so gut wie gar kein Geld! Nur die üblichen Bordmittel, die das Rathaus zur Verfügung stellt. Sozial-Senatorin Kipping hält eine kaum zweiminütige Rede auf Youtube, warme Worte, die das ganze schlechte Gewissen ausweisen, das die Wahl der Senioren begleitet.

Immerhin hat der Bezirk zwei Geschäftsstellen für die Seniorenvertretungen eingerichtet, eine in Friedrichshain, eine in Kreuzberg. Doch den Großteil der Büroausstattung mussten die Gewählten selbst organisieren. Man setzt auf Ehrenamt und Opferbereitschaft. Man spart, und so wurden auch 2021 von den zur Verfügung stehenden 3.700 Euro für die Seniorenvertretung nur 1.600 Euro abgerufen.

Das Land Berlin scheint mit dem Seniorenvertretungsgesetz schlichtweg überfordert. Im November und Dezember 2020 wurde im Bezirk eine aufwändige Befragung mit 3500 Beteiligten durchgeführt. Eine Auswertung der Ergebnisse dieser Studie 60 plus gab es bislang nicht. Dabei steht in dieser Studie so ziemlich alles, was der Bezirk über seine Alten wissen muss: Wie viel Geld haben die Alten? Wie wohnen sie? Was vermissen sie? Wie steht es mit der Gesundheit? Was gibt es für Angebote? Die Antworten lesen sich anders als es sich viele der Befragten vor dreißig Jahren noch träumen ließen – als sie noch das Kreuzberger Flair der Unbeschwertheit genossen und der Staat als Fürsorger noch keine Rolle spielte.

Und so steht jede neu gewählte Seniorenvertretung jedes Mal wieder ganz am Anfang. So auch die Kandidatinnen und Kandidaten des Jahres 2022. Sie kommen überwiegend aus Sozial-Institutionen, kennen sich aus mit den Alten und ihren Problemen, aber sie laufen Gefahr, die Sprache der Behörden zu gut zu verstehen. Im Dickicht der Bürokratie und der Regelwerke das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: Die Bedürfnisse der älteren Bürger.

Jenseits der klassischen Sozialressorts hat sich bisher niemand die Mühe gemacht, das so genannte Querschnittsthema Alte einmal genauer zu untersuchen. Die Frage, wo die Alten eine Rolle spielen oder spielen sollten, bleibt unbeantwortet. Bei einem Volumen von über 600 Mio. Euro, die der Bezirk jedes Jahr für seine Senioren ausgibt, wo jede Glühbirne in einem Schulhaus einem Produkttitel zugeordnet ist – sind 40.000 Alte einfach nicht vorhanden.

Dabei geht nicht um die ganz großen Themen der Politik, es geht nicht um Wohnraum, Umweltschutz, das Gesundheitssystem, sondern es geht um bescheidene, kleine Hilfen. Es geht darum, Menschen aus ihrer Isolation zu befreien, in die sie nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben geraten. Es geht darum, Ihnen wieder zu Ermäßigungen bei der BVG und der Deutschen Bahn zu verhelfen, die lediglich vergünstigte Jahreskarten für Rentner anbieten. Als führen sie noch täglich zur Arbeit! Es geht darum, ihnen Kino- und Theaterbesuche zu ermöglichen, Besuche im Schwimmbad und in Sportzentren. Es geht darum, sie noch im vollen Umfang an jenem städtischen Leben teilnehmen zu lassen, das sie mit ihren Steuergeldern über viele Jahre hinweg mit aufgebaut haben.

Kreuzberger Seniorenvertreter 2017-2022 - Bildquelle: Website des Bezirksamtes




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