September 2021 - Ausgabe 232
Strassen, Häuser, Höfe
Taborstraße 8 von Werner von Westhafen |
Die falsche Adresse Der Krieg ist aus. Helena Feuchert, die mit ihren Kindern evakuiert wurde, ist zurück in Berlin. Sie kommt gerade aus Tuntschendorf in Schlesien und steht mit ihrer Tochter und den Enkelkindern vor dem Haus in der Taborstraße 8. Kreuzberg ist ihre Heimat, hier hat sie ihr Leben verbracht, in der Forsterstraße, der Cuvrystraße, am Moritzplatz, in der Skalitzer Straße, der Wiener Straße, der Kopisch-, der Dessauer-, der Bernburger- und der Kreuzbergstraße. Aber die Wohnung in der Taborstraße war die schönste - und auch die wichtigste in ihrem Leben. Helena Feuchert war 16 Jahre alt, als sie von Bernburg nach Berlin kam und eine Stelle als Dienstmädchen in Lichterfelde annahm, wo die erste elektrische Straßenbahn der Welt verkehrte, die Anhalter Bahn und die Potsdamer Bahn Station machte. Später fand sie eine Anstellung als »Putzmacherin«, dann arbeitete sie in der Hutabteilung des Warenhauses Wertheim am Moritzplatz. Helena Feuchert war eine attraktive Frau mit Prinzipien, die ein Leben lang dem Duft No. 5 von Coco Chanel die Treue hielt. Es dauerte nicht lange, da lernte sie einen Drucker aus dem Verlagshaus Ullstein kennen. Sie heirateten, zogen in eine große Wohnung in der Leinestraße, bekamen eine Tochter. Sie war drei Jahre alt, da musste Ernst Feuchert in den Krieg. Er kam nie wieder, Helena war Witwe. Vier Monate später kam Heinz zur Welt. Die große Wohnung konnte die junge Witwe nicht bezahlen und zog zu ihrer Mutter in die Forsterstraße 53, wo gegenüber bei Frau Stellmann »der Zapke« zur Untermiete wohnte. Es blieb nicht aus, dass sich die beiden im Treppenhaus begegneten. Der Tag kam, da zog das junge Paar mit Helenas Kindern ein paar Häuser weiter in die Cuvrystraße. Doch auch dieses Glück währte nicht lange, der galante Untermieter entpuppte sich als sprichwörtlicher Stiefvater, die tapfere Helena zog mit ihren Kindern in die Skalitzer Straße. Noch Jahre später, im Gefängnis, erinnert sich der Sohn an die liebevolle Mutter, die ihm in der Pause das vergessene Schulbrot nachbrachte. Helena Feuchert war eine gute Mutter und Heinz war ein begabter Schüler, der Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch sprach. Auch Adele, die Tochter, fand eine Stelle als Stenotypistin in einer großen Versicherung gleich neben dem Metropol Theater. 1935 verliebte sie sich leidenschaftlich in den Sohn eines Metzgers aus der Wiener Straße und heiratete. Helena war glücklich über den neuen Mann in der Familie, doch auch dieses Glück war nur von kurzer Dauer: Der Schwiegersohn fiel schon bald im Krieg. Und Heinz, ihr leiblicher Sohn, der Anschluss an die Berliner Künstlerszene gefunden hatte, heiratete mitten im tobenden Krieg die Tochter einer stadtbekannten Tänzerin. Die Hochzeit mit Peggy Weber wurde in der Grunewald-Villa der Mutter gefeiert, in der seit einigen Wochen auch ein SS-Sturmbannführer einquartiert worden war. Als der SS-Mann dem Bräutigam auf der Treppe entgegenkommt und »in herrischem Ton verlangt«, Heinz möge ihm aus dem Weg gehen, schlägt Helenas Sohn nach Boxermanier zu. Vier Tage später wird Heinz wegen Körperverletzung zu sieben Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Was jedoch schlimmer ist: Heinz, der wegen seiner Fremdsprachenkenntnisse nicht auf den blutigen Schlachtfeldern, sondern in der Schreibstube des Militärs gelandet war, verliert seinen sicheren Posten. Auch die Dolmetscherschule entlässt ihn. Noch härter trifft es ihn, als er zwei Jahre später fahnenflüchtig gefasst wird. Als Vorbestrafter hat er vor dem Kriegsgericht kaum eine Chance, Helenas Sohn droht die Todesstrafe. Ein einfacher Feldwebel, der die Rolle des Verteidigers vor dem 462. Militärgericht übernimmt, setzt ein beeindruckendes Gnadengesuch für den jungen Mann auf und plädiert für eine Gefängnisstrafe, nach deren Verbüßung der begabte und auch moralisch sensible Mann »unserer Volksgemeinschaft eines Tages als brauchbares Mitglied wieder zurückgegeben werden könnte«. Das blieb, wie Dr. Hans J. Gaida in einem Buch über Helena, die Großmutter seiner Frau, schreibt, »auf die Richter in Metz nicht ohne Eindruck«. Am 2. Juli 1944 um 5.50 Uhr wird in Straßburg ein Telegramm abgeschickt an Frau »Helena Feuchert, Berlin SO, Taborstraße Nr. 8«. Sein Inhalt: »Sofort bei Generaloberst Fromm, Befehlshaber des Ersatzheeres - in Sachen Ihres Sohnes vorsprechen - Rechtsanwalt Stoffel«. Doch in der Taborstraße 8 ist keine Helena Feuchert mehr! Sie ist im schlesischen Tuntschendorf. Als das Telegramm endlich dort eintrifft, ist Helenas Sohn bereits tot. Sie hatte in der Hast der Flucht vergessen, bei der Post einen Nachsende-Antrag zu hinterlassen. In einem Brief aus der Todeszelle versucht Heinz, Helena zu trösten: »Denke nur an die vielen Mütter, die durch diesen Krieg nicht nur einen Sohn, sondern vielleicht mehrere, sowie ihre Männer und auch sonst alle ihre geliebten Menschen verloren haben... .« Am 21. August 1944, morgens um halb acht, wird Heinz Feuchert hingerichtet. • Literaturnachweis: Hans J. Gaida, »Mein Leben schrieb keinen Roman« ISBN 9798683833657 |