Kreuzberger Chronik
September 2021 - Ausgabe 232

Essen, Trinken, Rauchen

Der alte Mann und die Pizza


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von Erwin Tichatschek

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Der Wirt von der kleinen Pizzeria in der Nostitzstraße heißt Onkel Maju. Früher hieß er Gino, und früher gab es keine Pizza, sondern Jazz.

von Erwin Tichatschek

»Genau hier stand das Klavier«, sagte er. »Und die Kneipe gehörte Gino. Gino war kein Pizzabäcker, Gino war ein Musiker. Wenn die Jazzer im Quasimodo mit ihren Konzerten fertig waren, dann kamen sie zu Gino.«

Die großen Augen der jungen Mädchen hingen an den schmalen Lippen des älteren Herrn. Vielleicht, weil er so wenig sprach, oder weil er meistens ein Lächeln auf den Lippen hatte, wenn er sprach. Vielleicht auch, weil sie merkten, dass es ein besonderer Moment war für den Musiker, nach dreißig Jahren wieder in diesem Raum zu sitzen, in dem er einst so viele Stunden verbracht hatte. Bei Gino, im legendären La Bohème.

Schon als er eintrat, war er stehen geblieben und hatte sich nachdenklich das Kinn gerieben. Er benahm sich, als stünde er in einem Museum, beobachtete den Kellner, der gar nicht aus Italien kam, und die Wände, die viel heller waren als die verteerten Tapeten des Jazzlokals.

»Aber eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert« sagte er. »Der Tresen war länger damals! Und voller war es. Es war jede Nacht voll hier. Das La Bohème war ein Geheimtipp.«

An diesem Abend waren die drei Frauen und der Musiker in der Ecke die einzigen Gäste. Die Frauen waren schön, sie kamen aus Spanien, Sumatra, den Niederlanden, und sie stießen gerade auf ihre jungfräulichen Doktortitel an. Der einzige Berliner und der einzige Boheme an diesem Abend war der kleine Mann mit dem grauen Stoppelbart.

»Hat es Ihnen geschmeckt?« fragte der Kellner.

Die jungen Frauen zwitscherten vor Vergnügen, und der ältere Herr sagte: »Es war ganz ausgezeichnet!« Als die Frauen darauf bestanden, den Mann am Tisch einzuladen, hob er resigniert die Schultern und fragte den Kellner: »Womit hab ich das nur verdient?«

Sie standen noch eine Weile draußen in der Nostitzstraße und rauchten. An der Fensterscheibe hing ein Zettel: Sonntag und Montag jede Pizza 2,90. »Also, irgendwie ist das immer noch ein Geheimtipp!«, sagte der Musiker.

Die Mädchen lachten und zwitscherten und flogen davon wie ein Schwarm Spatzen. Lächelnd ging der alte Mann nach Hause. Fast so jung wie damals, als es das La Bohème noch gab. •

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