Kreuzberger Chronik
September 2021 - Ausgabe 232

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Neue Bergmannstraße


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von Horst Unsold

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Keine andere Straße machte so viel von sich reden wie die Bergmannstraße. Jahre lang wurde über den Umbau debattiert, niemand wusste, was kommt. Jetzt nimmt die Zukunft Gestalt an.

Jetzt ist es so weit. Die Bergmannstraße zeigt ihr neues Gesicht. Sechs Jahre ist es her, dass die ersten Pläne der künftigen Bergmannstraße an die Öffentlichkeit gelangten. Viele teure Bürgerversammlungen fanden statt, in denen erörtert, diskutiert und heftig gestritten wurde. Am Ende der zähen Verhandlungen zwischen Politik und Bürgern standen nur noch einige Details, nicht aber der umstrittene Umbau der Straße selbst zur Diskussion. Doch die den Bürgern zur Abstimmung präsentierten Entwürfe, die eine Verkehrsberuhigung durch Pflanzbeete und Sitzgelegenheiten am Straßenrand anstelle von Parkplätzen vorsahen, haben mit der Realität, die sich jetzt zeigt, nur noch sehr wenig zu tun.

Max Stadler sitzt vor dem Atlantic und nippt an seinem Espresso. Er ist extra aus Wien angereist, er kennt die Bergmannstraße noch aus den Achtzigern. »I hob früher moin Kaffee hier getrunken, der schmeckt fast wie der kleine Braune beim Schachinger!« Berlin war damals noch ein Geheimtipp unter den jungen Wienern, denen die österreichische Spießigkeit und der österreichische Schmäh allmählich auf die Nerven gingen. »Der Flohmarkt am Gleisdreieck, die Oranienstraße und die Bergmannstraße, darüber hat man bei uns in der Stadt gesprochen.« Kürzlich hatte Stadler in einer österreichischen Zeitung dann etwas vom Streit um die Bergmannstraße gelesen, und das hat ihn »a bisserl neugierig gemacht«. Ein zweispuriger, von Pollern und Aluminiumkästen begrenzter Radweg ist entstanden, daneben eine schmale, mit Kamelbuckeln übersäte Einbahnstraße. Keine Sitzgelegenheiten und auch keine Bäume.

Stadler schüttelt den Kopf. »Ich mein, es gibt sicher viele Straßen, in denen so was wie hier sinnvoll wäre. Aber die Bergmannstraße war doch wunderbar: überall Trödelläden, Cafés, Kneipen, Wohnungen, Tag und Nacht Leute auf der Straße. Das war ein harmonisches Miteinander von Autos, Fußgängern und den ersten Fahrradfahrern, die da ganz gemütlich zwischen den Enten, den VWs und den Spaziergängern Slalom fuhren. Da lässt doch jeder ernst zu nehmende Stadtplaner ganz die Finger davon, wenn sich so was von allein ganz wunderbar regelt. Die Bergmannstraße hatte Vorbildcharakter!«

Damit spricht der Österreicher den Altkreuzbergern aus dem Herzen. »Mich erinnert so ein radikaler Eingriff ins Stadtbild an eine sündhaft teure Schönheits-OP, die nicht nur misslungen, sondern lebensbedrohend ist. Weil, diese Straße ist ja mehr als nur eine gerade Linie auf einem Stadtplan, diese Straße hatte einmal eine Seele. Sie war ein Lebensraum, eine der Herzschlagadern Kreuzbergs. Jetzt wird sie zum Fahrradweg!«, meint Holger Klein, Motorradfahrer und erklärter Feind der Fahrradlobby, »die sich in nichts mehr vom ADAC unterscheidet! Da geht es nur noch um Knete und Macht!«

»Radschnellwege!«, meint auch der Österreicher. »Wenn ich das schon höre! Das ist doch ein Widerspruch in sich. Es wird nicht lange dauern, dann werden die ersten Toten auf der Bergmannstraße liegen. Und es hat hier - so hab ich´s jedenfalls gelesen - in all den Jahren noch nie einen ernsthaften Unfall gegeben!«

Roland Stegemann steht in bunten Hosen und mit einem bunten Plastikblumenstrauß am Fahrrad vor dem Café Breakout. Er steht dort schon seit zehn Minuten. Roland braucht sich nicht erst zu verabreden, er braucht nur auf die Straße zu gehen, wenn er sich unterhalten möchte. Jeder kennt ihn, jeder spricht ihn an. »Was machst Du denn hier?« - »Ich amüsiere mich!«, sagt Stegemann - »Womit?« - »Ich beobachte den Verkehr!« - »Und?« - »Sehr interessant! Gestern saßen wir vor dem Turandot, etwa zwei Stunden, und haben Beinahe-Unfälle gezählt! Na - schätze mal!« - »20!« - »Daneben! 28! Die meisten davon mit E-Rollern. Die sind zu schnell. Aber auch die Radfahrer sind viel zu schnell. Hat doch kein einziger mehr einen Tacho am Rad. Und dann die Mütter mit den Babykisten vor dem Lenker, was glaubst du, wie viele da fast schon in den Blumenkästen gelandet sind! Es wird nicht lange dauern, dann knallt jemand mit dem Kopf auf die Metallkanten! Warum haben sie die denn jetzt nicht aus Holz gemacht, wie das auf den Bildchen der Architekten immer so hübsch war?«


Die Situation auf der neuen Straße ist unübersichtlich, Unfälle sind vorprogrammiert. Heinz Kleemann hat sich die Mühe gemacht, die Schilder am Straßenrand zu zählen. Er kam auf 120 Verkehrzeichen allein zwischen Zossener- und Nostitzstraße: »Ein unübersichtlicher Schilderwald, ein regelrechter Exzess von Verbots-, Gebots- und Hinweisschildern. Das alles im Zeichen einer Verkehrsumerziehungspolitik! Für mich heißt die Bergmannstraße jetzt Schildastraße.«

Auch die Exekutive steht am Straßenrand und beobachtet skeptisch das Verkehrsgeschehen. »Die E-Roller und die Radrennfahrer halten die grünlackierte Fahrbahn mit der gestrichelten Mittellinie offensichtlich für eine Rennstrecke!«, sagt der Polizist. »Da kommen Sie mit ihrem Fahrrad nicht mehr hinterher!«, meint Stegemann. Der Polizist hebt die Schulter und sagt, er wüsste gar nicht, wen er hier zuerst herausgreifen sollte. »Hält sich doch keiner an die Regeln!« - »Vielleicht sollten Sie am Ende dieser Teststrecke so ein Nagelbrett versenken, das auf Knopfdruck aus dem Asphalt hochgefahren kommt. Und daneben dann gleich einen Reifenservice«.

Peter Klunker, Besitzer des Weingeschäftes gegenüber der Solmsstraße, kann die Straße bequem von seinem Laden aus betrachten und berichten, dass nicht nur Radfahrer an den Blumenkästen hängen bleiben, sondern auch Autofahrer, weshalb längst nicht mehr alle Kisten sauber in Reih und Glied stünden. Kürzlich sprach er einen der politischen Vertreter in der Straße an und erzählte, wie kompliziert es für die Lieferanten geworden sei: »Wir bekommen in der Woche 5 Tonnen Wein, und jedes Mal blockieren wir die ganze Straße, wenn wir da parken und ausladen. Und dann müssen wir noch warten, bis die Radfahrer uns mit den Paletten durchlassen.« Der Vertreter hob die Schultern und meinte allen Ernstes: »Dann müssen Sie den Wein eben mit dem Lastenfahrrad anliefern!«

Auch Uwe Timm von der Markthalle ist das Lachen vergangen. Er befürchtet, dass künftig die Kundschaft aus Wilmersdorf oder Spandau ausbleibt, die an den Wochenenden gerne mit dem Auto zur Marheinekehalle fuhr, um einzukaufen, Kaffee zu trinken oder in der Sonne vor der Halle wie in Griechenland Souflaki zu essen. »Einige unserer Händler sind schon sehr am leiden, andere kurz vor dem Konkurs. Ich halte das für den schlechtesten Moment für weitere Experimente!«, sagte er in einer Radiosendung, die live aus dem Café Breakout übertragen wurde. Mit dabei ein Anwohner aus der Straße, ein Vertreter des Grünflächenamtes, eine junge Stadtforscherin aus Stuttgart und Elke Plate von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die Konzepte für die »Post-Corona-Stadt« entwickeln soll.

Keiner von denen, die in der Sendung zu Wort kommen, hat grundsätzliche Zweifel an einer notwendigen Umgestaltung der Straße geäußert. Nie wird die Vergangenheit erwähnt, es geht um die Zukunft, die klimafreundliche, autofreie Stadt. Man spricht von neuen Lebensräumen, von »Bienenweiden« und »Verdunstungsblütern«, von »Entschleunigung« und »Lebensqualität«, von einem »Erlebnisort« und »vier Stühlen«, die man bereits aufgestellt habe. Und als die Moderatorin zum besseren Verständnis der nicht aus Kreuzberg stammenden Zuhörer die Frage stellt, wie es denn überhaupt zu dieser Umgestaltung der Straße gekommen sei, da antwortet Felix Weißbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Kreuzberg: »Das machen wir als Ergebnis einer Bürgerbefragung!« Und behauptet, die gefährliche Situation durch den zunehmenden Verkehr sei »der Ausgangspunkt der seit 2011 laufenden Bürgerbeteiligung gewesen«.

Das hört sich an, als hätten sich die Bürger beklagt, aber das ist die Unwahrheit. Die meisten Kreuzberger waren vollkommen überrascht von der plötzlichen Ankündigung eines Umbaus der Straße. Kaum jemand hatte sich wegen des Verkehrs beklagt. Die Politik reagierte im Fall Bergmannstraße nicht auf ein Anliegen der Bürger, sie reagierte auf das Angebot von EU-Geldern zur Verkehrsberuhigung der Innenstädte. Dabei suchte sie sich ausgerechnet eine Straße aus, in der es ohnehin schon ruhig zuging. Und begann zu planen und zu bauenn und Geld zu investieren, ohne den verärgerten Anwohnern dieser Straße jemals wirklich zuzuhören. •


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