Kreuzberger Chronik
Oktober 2021 - Ausgabe 233

Strassen, Häuser, Höfe

Lausitzer Straße 32


linie

von Volker Hauptvorgel

1pixgif
Der träge dahinschwappenden Kanalbrühe waren Müllmengen und Abwesenheit der namensgebenden Büste des nasenlosen und von Ölfarben verunzierten Komponisten Lincke egal. Es war kühl, aber trocken am Pfingstsonntag des Jahres 2021. Mittels Restgeldern aus EU-Fördermitteln zur Verbesserung der Wasserqualität hatten Anwohner in Eigenregie Uferböschung und Wall zur Lausitzer Straße neu angelegt und bepflanzt.

Auch die Fassaden aufgehübscht, Dachgeschosse in Schnellbauweise aufgesetzt. Vergitterte und verschlossene Torzufahrten, in Souterrains Gewerbe. Gas, Wasser, Scheiße und so. Ein Architekturbüro.

Der Kellerpuff in Nummer 32, dem Kreuzberger Bürgerhaus, war dicht. Die Fassade bröckelte, der Sims gebrochen. Am Klingelbrett in jedem Namenskästchen der Hinweis: »Nicht in Funktion«. Die Haustür mit dem charakteristischen Loch für den Durchsteckschlüssel offen. Zwielicht im Flur, nur drei Kerzenbirnen des Kronleuchters funzelten. Zum Podest hoch und runter in den Hof. Der Seitenflügel in Unfarbe gestrichen, hier mit funktionierender Außenklingel. Der letzte Altmieter öffnete.

Im Hochparterre seine Wohnung. Ganz gemütlich eigentlich. 2016, nach dem Tod W. W. Langmanns, hatten die Erben, auch über 60, das Haus an einen Freiherrn von und zu sonst was, für soziales Engagement bekannt und mit Altbautsanierungserfahrung dazu, verkauft.

Nach diversen Anschreiben über hehre Absichten folgte die Einladung zur Mieterversammlung ins Café der vor 40 Jahren besetzten Regenbogenfabrik. Mit fundierten Fragen, Alternativvorschlägen sowie klaren Absagen an gewisse Maßnahmen hatte die Entourage des abwesenden Freiherrn nicht gerechnet. Als die Mieter das Café verließen, hatte niemand die wohlformulierten und souverän gestalteten, als »Vereinbarung« titulierten Schriftstücke unterschrieben.

Die Verwalter berieten, wie man es den undankbaren Proleten, dem asozialem Pack, mal zeigen könne. Rechneten aber nicht mit Rainers offenem Ohr, der das Café schmiss.

Zum Hoffest waren alle Mieter angetreten, die bis dahin Haus und Hof, ja selbst W. W. gepflegt hatten. Sogar der Geist aus der Wohnung, in der nie jemand war. Der Grill glühte, an alkoholischen Getränken war kein Mangel. Man vergewisserte sich der gegenseitigen Solidarität. Die Puffmutter bereitete dem Beisammensein durch Kredenzen geistiger Getränke ein nicht geplantes frühes Ende.

Micha aus dem Vierten fand Manne aus dem Dritten auf den Treppenstufen schlafend - nicht zum ersten Mal. Am Mittag des nächsten Tages war es zu spät. Der arme Kerl war hinüber.

Der Hof wurde eingerüstet, im Keller die Heizzentrale gebaut, gegen die sich alle, besonders die Gasthermenbesitzer, gewehrt hatten. Rohre wurden durch die Wohnungen gezogen, Dreck und Staub überall. Eine Plane kam vors Gerüst. Für über ein Jahr zog Dunkelheit ein. Das alte Mauerwerk wurde energiegerecht mit Styropor zugeklebt.

Mollen-Manni aus dem Zweiten griff sich ans Herz. Nicht schon wieder, dachte er und klappte im Hof zusammen. Und Micha, der Marxist aus dem Vierten, ohnehin ein schmales Männchen, stellte die Nahrungsaufnahme ein, soff nur noch und wurde immer durchsichtiger.

Neben dem Geistermieter über ihm war der letzte Altmieter nun allein im Haus, die Wohnungen wurden entkernt, indem man Holz, Steine und Schutt aus den Fenstern schmiss. Die polnisch-rumänische Baucrew feixte sich eins. Erst Bauaufsicht und Polizei machten dem ein Ende. Im Vorderhaus passierte nichts.

Dem letzten Altmieter versprach man eine Umsetzwohnung im Hause. Dem fielen bereits die Kacheln von den Wänden, Bodenfliesen rissen. Man versprach Abhilfe. Mieter zogen ein. Und aus. Untermieter hinterher, die weiter untervermieteten.

Dann wurde das Haus weiterverkauft, an die Tochter des Freiherrn, die Freifrau. Im Vorderhaus starb Fritz, Ex-Fremdenlegionär mit Hang zu gutem Essen, schwarzen Mädels und jungen Jungs.

W. W. Langmanns und Fritzens Bude nun mit Zentralheizung. Die syrische Flüchtlingsfamilie zahlte jetzt 1.300 Euro kalt. Aus dem Puff wurde ein Hostel, der Hof nächtliche Partyzone. Die Mülltonnen quollen über, Beschwerden beantworteten die nunmehr dritten Hausbesitzer, erneut Familienmitglieder: »Die Hausbewohner mögen sich gegenüber den Gewerbemietern respektvoll verhalten.«

Die Wohnung des Geistermieters wurde frei und als Umsetzwohnung in Aussicht gestellt. Was dauerte. Die Fußbodenbalken waren verfault, die Hochparterrewohnung durch Staub- und Wassereinbrüche schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nix mit Umsetzwohnung. Der Betreiber einer angesagten Pizzeria, zufällig im Haus der Hausverwaltung tätig, ließ die 33 Quadratmeter als Werkswohnung deklarieren und behielt dafür 750 Euro direkt vom Gehalt seines Untermieters ein.

Der Altmieter wartete weiter. Mit Balkon, aber ohne Tür und Fliesen an den Wänden. Einem Loch in der Decke. »Die warten ab, bis wir sterben, Zeit spielt bei denen keine Rolle.« Mit den Worten verabschiedeten wir uns.

Im Haus neben der Regenbogenfabrik war 1978 der Mieter vor den Augen seiner Kinder samt Küchentisch vom zweiten in den ersten Stock durchgebrochen. Stand sogar in der BZ. Das Regenbogencafé ist zu. Rainer tot, beim Kuchenbacken umgekippt. In der 34 ein großes Schild im Fenster der ehemaligen Bäckerei: »Wohnen im Lausitzer Quartier«. Eine Dreizimmerbude kostet jetzt 1,2 Millionen. Ohne Fahrstuhl. Ecke Reichenberger verkauft Aurelio spanische Weine. Guter Stoff. •


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg