Kreuzberger Chronik
Oktober 2021 - Ausgabe 233

Geschichten & Geschichte

Kreuzberg im Taschenbuch


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von Erwin Tichatschek

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Vor 200 Jahren erschien ein Reiseführer über Berlin


Reiseführer für Berlin gibt es nicht erst seit dem Fall der Mauer und dem Ansturm der Touristen aufs Brandenburger Tor. Reisebeschreibungen, nicht selten von Literaten und in poetischem Stil verfasst, kamen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in Mode. Auch über die Stadt an der Spree wurde damals geschrieben, unter anderem von dem in dieser Publikation bereits öfter erwähnten womöglich ersten deutschen Reisejournalisten Julius Rodenberg.

Auch die praktischen Reiseführer für die Westentasche mit den wichtigsten Informationen für Besucher einer fremden Stadt sind keine Erfindung des Charterflug-Jahrhunderts. In der inzwischen einge-sparten Bona Peiser Bibliothek in der Oranienstraße stand in einem der hinteren Regale der »Neueste Führer durch Berlin, Potsdam und Umgebung« aus dem Jahre 1860: ein »Taschenbuch für Fremde und Einheimische nach eigener Erfahrung und besten Quellen erarbeitet«, erschienen in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung.

Besonderes Augenmerk lenkt der Berliner Schriftsteller Friedrich Morin - so wie auch heute unter Reiseführern üblich - auf die berühmten Straßen, Plätze und Gebäude der preußischen Hauptstadt. Ausführlich rühmt er Sanssouci, das Schloss, Theater, Gärten und Museen. Das Gebiet um den Kreuzberg findet nur selten Erwähnung.

Das erste Mal tritt es auf Seite neun in Erscheinung, wo die rasant steigende Einwohnerzahl Berlins bereits mit »456.025 Seelen« angegeben wird. Das Wachstum sei darauf zurückzuführen, dass »laut allerhöchster Cabinets-Ordre vom 28. Januar 1860« einige zuvor eigenständige Ortschaften »nunmehr zu Berlin zugehörig sind«. Darunter befinden sich auch »die zu Tempelhof gehörigen Grundstücke vor dem Halleschen Thore, einschließlich des Kreuzberges«. Von den etwa 20 Buslinien, auf denen über 1.000 Pferde insgesamt 260 Pferdeomnibusse durch ganz Berlin zogen, führte nur eine vom Wedding ins heutige Kreuzberg. Der Omnibus verkehrte vormittags alle 30, nachmittags immerhin alle 20 Minuten. Die »ganze Tour« über die Tempelhofer Straße, das Hallesche Tor und die Friedrichstraße kostet »3 sgr«.

In der langen Liste der Gasthäuser, Cafés und Hotels findet Kreuzberg keinerlei Erwähnung. Die großen Häuser liegen unter den Linden oder in der neuen Friedrichstadt, sie heißen Hótel Royal, Hótel de St. Petersburg, Hótel de Rome oder Hótel de Princess, Rheinischer Hof, Bellevue oder Kronprinz. Auch unter den »Gasthöfen II. Klasse« und den »Hótels garnis« ist keine einzige Kreuzberger Adresse.

Auch die »Restaurationen« - darunter »Speisehäuser ersten Ranges mit angemessenen Preisen«, die »auch von Damen besucht« werden – liegen in der noblen Stadtmitte. Nicht einmal bei den Weinstuben und Weinkellern, »in welchen kalte, in den meisten aber auch warme Speisen gereicht werden«, kann Kreuzberg einen Platz belegen. Lediglich bei den »Bayerischen Bierbrauereien« spielt die alte Luisenstadt eine Rolle. Da allerdings steht Kreuzberg mit der »Actien Brauerei am Kreuzberge vor dem Halleschen Thore« und dem »Tivoli« an allererster Stelle. Auch »Hopf auf dem Tempelhofer Berge« an der heutigen Fidicinstraße nimmt einen der vordersten Plätze ein, und sogar der Dustere Keller, ein »Weißbierlokal am Fuße des Kreuzberges«, wird von Friedrich Morin nicht vergessen. Er schwärmt: »Mit allen Brauerien sind mehr oder weniger große Garten-Localitäten verbunden. Sie sind größtenteils sehr besucht, je nachdem das Bier schmackhaft befunden wird.«

Zu den weiteren Attraktionen der Stadt zählt Morin die Berliner Flussbäder, vorneweg die Maas´che Bade und Schwimmanstalt mit ihrem Wellenbad vor dem Schlesischen Tor, das Flussbad am Wasserthor und die Pfuelsche Schwimmanstalt in der Köpenicker Straße, in der die königlichen Soldaten das Schwimmen lernen sollten.

Zu den unverzichtbaren Sehenswürdigkeiten rechnete er das Bethanien mit seinen kunstvollen Türmen und das Denkmal auf dem Kreuzberg, von wo aus man »den besten Ueberblick über Berlin und Umgebung« genießen könne. Auch die »Friedenssäule« auf dem Belle Alliance Platz am Halleschen Tor hat sich Morin angesehen. Verloren steht heute der Friedensengel auf seinem Sockel »aus schlesischem Marmor« zwischen schmucklosen Nachkriegsbauten und den gläsernen Aufzugsschächten der Berliner Verkehrsbetriebe. Kaum jemand bemerkt sie noch, die Frau mit dem Palmenzweig in der Linken.

Selbst gestandene Historiker stoßen in Morins 200 Jahre altem Büchlein auf unbekannte Details, und die beigefügte Karte von Leopold Kraatz, in der die Stadt noch fein säuberlich und in sanften Pastellfarben voneinander getrennt in ihren alten Grenzen sichtbar wird, birgt Überraschungen: Da liegt am Stadtrand im Westen der tiefgrüne »Thiergarten« mit der längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwundenen »Pulver-Wiese«, mit der »Judenwiese« und dem »Birkenwäldchen«. Im Zentrum der Karte befinden sich das grün und violett schattierte alte Berlin und Cölln, und südlich davon ist blau schattiert die gerade erst erbaute Friedrichstadt zu finden, gleich daneben die rosafarbene Fläche der Luisenstadt. Jenseits des Halleschen Tores liegen jene weißen Landstriche, die schon auf den Karten der Seefahrer unbekanntes Land markierten. Und wer sich nun mit Lupe und Leselampe über die Karte beugt, der entdeckt den Hopfschen Biergarten an der Fidicinstraße, die längst vergessene Essigfabrik neben dem Dreifaltigkeitsfriedhof, und, nicht weit entfernt vom heutigen Mehringdamm und der Bergmannstraße, die legendäre Schenke Zum Dusteren Keller: Den geheimen Geburtsort der Bundesrepublik. •


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