November 2021 - Ausgabe 234
Kreuzberger
Die Tangotänzer Wir tanzten, tranken und aßen einen Monat lang
von Edith Siepmann
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Es gibt Menschen, die ins Auge fallen und die Phantasie in Gang setzen. Sie laufen einem jahrelang über den Weg, ohne dass man je ein Wort wechselte. Sie kommen einem wie alte Bekannte vor, ohne dass man etwas über sie wüsste. Die schlanke Frau mit den sehr langen, weißblonden Haaren - eine amerikanische Malerin? Die Dame mit dem großen Windhund - eine russische Gräfin? Lange Zeit nicht mehr gesehen... Es ist der Reiz des Anonymen in der Großstadt: der Spazierende ist ein Voyeur im öffentlichen Raum, die Straße ist die Bühne für die menschliche Komödie und die Cafés sind die Logen. Das Pflaster als Parkett für den Tanz des Lebens, den der Kreuzberger oftmals alleine, aber auch als Paar vollzieht. Selten sind die Paarungen von Dauer, noch rarer aber sind die Pärchen, die zuverlässig gemeinsam in der Öffentlichkeit auftreten und dem Vorübergehenden ein Gefühl von Verlässlichkeit und Dauer geben. Ein solches Paar, das auffällt, sind Sonja Walter und Jens-Christian Beelte. Aufrecht sitzt die grazile, akkurat geschminkte Sonja mit sorgfältig gestecktem, rotem Haarknoten in schmalem Oberteil und elegantem Rock vor Café Crème und Törtchen. Ihr gegenüber Christian, mit leicht nach oben gezwirbelten Schnurrbartspitzen und Krawattenschal, schwarz gekleidet und ebenfalls vor Kaffee und Kuchen. Fahrradfahrer, kreischende Teenies und mit Einkauf beladene Mütter ziehen das Trottoir der Friesenstraße entlang, doch beide sind so ins Gespräch vertieft, dass sie es nicht wahrzunehmen scheinen. Beinahe täglich sitzen sie vor dem Golightly, immer in ähnlichem, stilsicherem Outfit, immer in angeregtem Gespräch und guter Stimmung. Ein wenig scheinen sie aus einer anderen Zeit ins lärmige, spröde Kreuzberg gefallen zu sein. Christian aus Hildesheim, der seine Jugend in einem christlichen Jungengymnasium verbrachte und damals anfing, Standard Latino zu tanzen, »um Mädchen kennenzulernen«, war nun im Dienste des Tango fast täglich auf den Tanzabenden als Gastherr präsent und bald in ganz Hannover bekannt für seine Führungskunst. Eigentlich studierte er Maschinenbau »aus Konstruktionslust« und aus Tradition, denn er stammt aus einer Hildesheimer Maschinenbaudynastie. Sein Vater ist Professor in diesem Metier, Vorfahren liegen im Hildesheimer Dom begraben. Aber er hatte keine Lust auf eine einsame Konstruktionstätigkeit, er wollte unter Menschen und hängte deshalb das Studium an den Nagel. Die Weltausstellung im Jahr 2000 ermöglichte einigen Tangolehrern aus dem krisengeschüttelten Argentinien in Hannover zu bleiben. Ein Glück für die dortige Tangoszene: German Cassano und Liliana Espinosa waren ein inspirierendes Paar. Christian wurde zum Aficionado der Blicke und Schritte des Tango Argentino. Sonja aus der nordhessischen Provinz kam aus einfacheren Verhältnissen. Die Eltern hatten kein Geld übrig für die Ballettschule, auf die sie so gerne gegangen wäre. Also durchstöberte sie die Bibliothek nach einschlägiger Literatur und lernte die Figuren aus Büchern. Akrobatik ebenso. Nach einer Schneiderlehre wechselte sie zum Berufsschullehrerstudium nach Hannover, aber der Tanz musste Teil ihres Lebens bleiben. Dass es der Tango wurde, begründet Sonja mit dessen Variabilität: »Tango geht bis ins hohe Alter. Du musst keine Wettbewerbe machen. Er ist voller Spannung und vielfältig. Du findest beim Tango alles, was Du möchtest.« Am liebsten lässt sie sich dabei von Christian führen, »da muss ich mir die Schritte nicht merken, ich folge einfach.« Schnell wurde sie so zur Tango-Queen Hannovers. Bei einem einmonatigen Aufenthalt in Buenos Aires, der Geburtsstadt des Tango, hatte das Paar das Glück, von besten Tänzern und Tänzerinnen soviel zu lernen, dass es für ein ganzes Tangoleben reichte. »Wir wohnten im San Telmo, das ist so ähnlich wie Kreuzberg. Wir tanzten, tranken, aßen einen Monat lang mit wunderbaren Tänzern in familiärer Atmosphäre, es war ein Traum.« Die Milongas – die Tanzabende – sind ein einziges, großes Gesellschaftsspiel. Das Auffordern über Augenkontakt - mal erfolgreich, mal abweisend - , die neuen Kombinationen der Paare nach den kurzen Pausen, das ganze hochkomplizierte Ritual des Ausdrucks von Sehnsucht, Melancholie, erotischer Spannung und Wirrwarr. Buenos Aires gab Sonja einen Kick in Richtung Profitanz. »Wir haben dort gesehen, was so geht, auch im Showtanz.« Und den machen sie heute noch: das Anstrengende muss leichtfüßig und gleichzeitig spektakulär wirken. Sie entwickelten ihren eigenen Witz, bierernste Darstellungen sind nicht ihr Ding. 2004 bekam Sonja einen Job an der Modeschule am Checkpoint-Charlie und ist seitdem auch leidenschaftlich gerne Lehrerin. Allerdings nur halbtags. Es muss Zeit für den Tango bleiben! Christian wiederum pendelte damals zwischen Leine und Spree - eine suboptimale Situation - und zog dann ohne Job zu Sonja in die Solmsstraße. Da der Mensch manchmal pekuniär gezwungen ist, neue Ufer zu suchen, wurde er Zauberer und trat mit einem Partner auf der Bühne auf. Zaubern sieht so leicht und spielerisch aus, aber es ist harte Arbeit. Sonja war davon gar nicht begeistert, das andauernde, schon autistische Üben. »Die Tricks müssen ja geheim bleiben! Da ist kein Austausch. Überall flogen Karten rum, es nervte.« Sonja meint, für sie wäre der Flow der Bewegung und die Gemeinschaft wichtig: »Unsere ältesten Schüler sind über 80, die tanzen seit 55 Jahren.« - »Berlin ist die Tango-Hauptstadt Europas!«, ergänzt Christian. Man kann hier alle Stile tanzen, und zwar mehrfach, täglich, überall. Es gibt strenge Tanzabende sin palabras - ohne Worte - oder solche, die wie gesprächige Kneipenabende sind; Milongas draußen auf dem Monbijou-Platz und auf dem Flugfeld, oder drinnen im Walzerlinksgestrickt oder im Saal des Tomasa am Kreuzberg. Bei Media Luna mischen sich alle. Sonja und Christian sind Traditionalisten. Es gibt den Führenden und die Folgende, maskulin und feminin, so wie der latino machismo auch die Figuren prägt. Es kommen aber auch queere Paare, die sich einigen, wer führt und wer folgt, und die auch wechseln. Sonja möchte nicht führen: »Ich muss mir keine Schritte ausdenken, ich folge einfach Christian. Beim weiten Tanz achte ich auf seine Schultern, die Hüften sind parallel. Beim engen Stil kann ich den Kopf ausschalten, die Augen schließen und folge seinen Schritten über den leichten Druck seines Körpers. Es ist faszinierend, wie der Führende die Musik und die Schritte vorausahnt und dich, ohne andere anzurempeln, in die richtige Bewegung führt. Es greift ineinander wie zwei Zahnräder, die eine Uhr antreiben. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.« Der Tango Argentino kommt aus dem Hafenviertel, aus Arbeitslosigkeit und Prostitution. Man schob sich Wange an Wange übers Pflaster. Südeuropäische Töne vermischten sich im späten 19. Jahrhundert mit afrikanischen, es entstand ein globales Tongemisch der Sehnsucht nach verlorener Heimat, aber auch der Lebenslust. Der Milonga-Tanz erinnert an den Schieber - wie auf Zille-Zeichnungen. Der vornehme europäische Salon-Tango entstand erst später in den 20ern vor allem in Paris und wurde zum Standard: gleitende, große, strenge Figuren auf dem Parkett. »In Argentinien gibt es viele Regeln, damit man viel schummeln kann. In Deutschland wird das alles viel zu ernst genommen.«, meint Christian. Da schummelt keiner. Dabei ist Schummeln Teil des Spiels. Sonja und Christian lieben den ursprünglichen, den archaischen Tango: den tapsigen Canyengue, die gesetzten und nicht die geglittenen Schritte. »Eng und klein kann man das noch machen, wenn man 100 ist!« Und am besten tanzt man den Tango täglich. Aber letztes Jahr haben auch die leidenschaftlichen Tangolehrer vom Südstern pausieren müssen. »Corona war eine super anstrengende Zeit!« Jetzt endlich kehrt allmählich das Leben zurück. Seit Oktober gibt es sie wieder, die Milongas und die Tangokurse am Südstern. |