Kreuzberger Chronik
Mai 2021 - Ausgabe 229

Strassen, Häuser, Höfe

Moritzstraße Nummer 2


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von Ingrid Weber

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Die alte Moritzstraße gibt es nicht mehr. Nicht einmal eine Fotografie von ihr ist zu finden, geschweige denn eine Postkarte. Es gibt nur noch die neue Straße mit dem alten Namen. Die alten Häuser wurden weggebombt, abgebrannt und abgerissen. Es muss eine hübsche, ruhige Straße gewesen sein, ihren Namen erhielt sie von einem bedeutenden, gleichfalls fast vergessenen Dichter: Carl Phillipp Moritz. (Vgl. Kreuzberger Nr. 226)

Wer heute mit Googles Satellitenauge auf das Viertel herabschaut, kann das Ausmaß der Zerstörung erahnen. Zwischen Ritterstraße und Gitschiner Straße, Alexandrinenstraße und Prinzenstraße ist nichts mehr, wie es war. Die Struktur des rechteckigen Viertels mit Häusern entlang der Straßen ist aufgelöst, wie schräg geparkte Autos stehen einige Nachkriegsbauten im 45-Grad-Winkel zum Straßenrand, wie zufällig eingestreut in eine aus geraden Linien konstruierte Stadtlandschaft. Sie tragen flache, zementgraue Dächer, kein roter Tupfer weist auf tönerne Ziegel hin. Lediglich auf dem Dach des Eckhauses an der Prinzenstraße sind einige blaue und dunkelrote Punkte zu erkennen: Das könnten die Prinzen-Automobile des Gebrauchtwagenhändlers Mustafa Akyü sein, denn wo sich einst ein stattliches Wohnhaus befand, steht jetzt ein schmuckloses Parkhaus mit Dachetage. Transparente an den Betonwänden werben für freie Stellplätze.

Gegenüber der Nummer 22 mit den Autos auf dem Dach liegt die Nummer 2. Hier wohnte einmal der Malermeister Kuschel, im ersten oder zweiten Stock. Ganz unten in Parterre lag die kleine Einzimmerwohnung einer jungen Frau, und im zweiten Stock wohnte Inge Spatzler mit ihrer Mutter. Inge war noch keine fünf Jahre alt, als die ersten Bomben fielen, aber sie konnte sich auch viele Jahre nach dem Krieg gut an die alte Straße erinnern, auch an das Haus mit der Nummer 22. Ein stattliches Haus, doch eines Tages - sie kamen gerade aus dem Bunker in der Fichtestraße - war es plötzlich verschwunden. Stattdessen ein riesiger Krater, »in dem es immer wieder Explosionen gab. Es war wohl eine Gasleitung getroffen worden.« Die Leute, die gerade aus dem Bunker kamen und nachhause wollten, zögerten lange, dann begannen die Mutigsten in den Pausen zwischen den Explosionen um ihr Leben zu rennen.

Auch das Haus mit der Nummer 2, in dem Inge mit ihrer Mutter wohnte, wurde von Bomben getroffen. Rundherum brannte alles lichterloh, aber die Wohnung der Familie Spatzler blieb verschont. Das Treppenhaus war zur Hälfte zerstört, doch bis zur zweiten Etage waren die hölzernen Stufen und Geländer noch vollkommen unbeschädigt. »Man konnte jetzt vom Treppenhaus in den Himmel sehen, aber unsere Wohnung und unsere Möbel waren noch vorhanden«, erinnert sich Inge Spatzler.

Der Krieg dauerte an, immer wieder mussten Inge und ihre Mutter in den Keller, in den Bunker oder in die Gräben am Böcklerpark flüchten. Dennoch begann 1944 auch für Inge der Schulunterricht, zuerst in der Wilmsstraße, später in der Bergmannstraße. Immer öfter wurde der Unterricht wegen Bombenalarm unterbrochen, dann rannten die Kinder auf kürzestem Wege nachhause. Nicht alle fanden sich am nächsten Morgen wieder im Klassenzimmer ein, die einen hatten aufzuräumen, die anderen waren verletzt, oder noch schlimmer: Sie kamen nie wieder.

Das Ende des Krieges erlebte Ingrid im Keller der Nummer 2, auf dem Schoß einer fremden Frau, die panische Angst vor den Russen hatte, von denen berichtet wurde, dass sie alle jungen, ledigen Frauen mitnehmen und vergewaltigen würden. Das kleine Kind auf ihrem Schoß sollte sie vor dem Schlimmsten bewahren.

Die junge, hübsche Nachbarin mit der Wohnküche - »also einem Zimmer für alles« - hatte keine Probleme mit den fremden Soldaten. Im Gegenteil, »sie bekam öfter Besuch von Russen«, weshalb Inges Mutter vom »Russenflittchen« sprach. Warum sie sich den Russen hin-gab, ob sie arm war oder liebestoll, oder ob ihr die kleinen Geschenke so gefielen, konnte Inge nicht herausfinden. Aber jeder Frau im Haus war klar, dass »dank der Freundlichkeit dieser Nachbarin« sonst »niemand im Hause von den Russen belästigt« wurde. Und wenn Inges Mutter sie als Flittchen bezeichnete, dann tat sie das nie ohne einen gewissen Respekt. Sie wollte »diese Frau nicht verurteilen«, zumal sie ihrer Tochter hin und wieder etwas zusteckte.

Auch Malermeister Kuschel war ein Segen für das Haus. Er kümmerte sich rührend um die Nachbarn, »hat uns geholfen, wo er nur konnte«. Als in den Pferdeställen an der Moritzstraße die Tiere notgeschlachtet wurden, brachte er allen, die im Haus wohnten, Fleisch vorbei. Aus den leeren, einsturzgefährdeten Wohnungen holte er Eingewecktes oder getrocknete Linsen oder Erbsen und verteilte sie im ganzen Haus. Niemand verhungerte in der Moritzstraße 2, und wenn es doch einmal heftig zu knurren begann in den leeren Mägen, dann schlich man sich in der Dunkelheit der Nacht zum Böcklerpark, wo die riesigen Kürbisse lagen, und bat einen der Wachposten, die vor den Gärten postiert wurden, um ein Stück für die Suppe. So hielten hier alle in der Not zusammen.

1949 zog Inge mit der Mutter in die Kreuzbergstraße. »Unser altes Haus steht nicht mehr.« Die Nummer 2 wurde in den Sechzigerjahren abgerissen, ebenso wie alle anderen Häuser in der Straße. Kein einziges Gebäude ist erhalten, geblieben sind nur die Erinnerungen von Inge Spatzler.•

Die Moritzstraße nach dem Wiederaufbau


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