Mai 2021 - Ausgabe 229
Hausverbot
Die Geschlossene Gesellschaft von Ina Winkler |
Als der Apulier Vincenzo Salatino, den alle alten Kreuzberger seit mehr als vierzig Jahren nur noch »Enzo« nennen, noch seine Trattoria da Enzo in der Großbeerenstraße hatte und jeden Abend für eine kleine Fangemeinde Wein ausschenkte und mit seinen Gästen gerne bis spät in die Nacht über dieses oder jenes lauderte, gehörten zu seinen Stammgästen unter anderen auch die Musiker vom Grips Theater und die Leute vom BKA, sowie die Nachbarn, die seinen Rotwein zu schätzen wussten. Und dann war da noch Waldi. Waldi passte nicht so recht in diese Gesellschaft aus Wein- trinkern, er saß mit Anzug und Krawatte und blank geputzten Schuhen meistens alleine am Tresen und trank Bier. Viel Bier. »Das war so ein Zweizentner-Mann, wirklich dick, also sooo dick...« sagt Enzo, breitet die Arme aus und zieht ehrfurchtsvoll eine Augenbraue hoch. »Ich erinnere mich an einen Abend, da hatte er fünfzehn Bier auf dem Zettel, siebeneinhalb Liter!« Waldi wohnte visavis über dem Supermarkt, war von Beruf Krankenpfleger und kam regelmäßig jeden Abend nach der Arbeit vorbei. Beim Hereinkommen grüßte er freundlich, später plauderte er über italienische Opernstars oder das Krankenhaus. Bis zum fünften Bier war alles in Ordnung, aber dann wurde er zum Tier. Auch äußerlich mutierte er zum Schwein, kippte das Bier wie Wasser in sich hinein und rülpste laustark. Wirklich schlimm wurde es, wenn er seine Essensmarke aus dem Zweiten Weltkrieg aus der Tasche holte und von Hitler zu erzählen begann. Und von Mussolini. Voller Hochachtung, wenn nicht Begeisterung. Das war der Moment, in dem Enzo die Musik einschaltete. Er wusste: Sobald Pavarotti oder Caruso erklangen, beendete Waldi seine Lobeshymnen auf die Diktatoren, verfiel in andächtiges Schweigen, stützte den schweren Schweinskopf in die Hand und lauschte den Arien aus den Sechzigern. So kam man einigermaßen miteinander aus in der Trattoria, und tatsächlich kam es nie zum Streit zwischen den Künstlern und dem Nazi am Tresen. Zwei mal allerdings musste die Feuerwehr gerufen werden, weil Waldi nach dem fünfzehnten Bier die Balance verlor und stürzte und mit seinen zwei Zentnern nicht mehr auf die Beine kam. So hätte es weitergehen können, Abend für Abend, jahrelang, der rechte Waldi neben den linken Kreuzbergern. Aber eines Abends hatte Enzo eine kleine italienische Gesellschaft bei sich zu Gast, eine Combo spielte, eine Sängerin sang. Als Waldi hereinkam, strahlte er, als stünde Pavarotti auf der Bühne. Er hat es nie verstanden, als Enzo ihm erklärte, dass es sich um eine geschlossene Gesellschaft handele. Und wurde in der Trattoria da Enzo nie wieder gesehen. • |