Juni 2021 - Ausgabe 230
Geschichten & Geschichte
O ewich ist so lanck! (19): Der Geschichte 19. Teil: Wolfgang Harich von Eckhard Siepmann |
Wie in der Bibel, so kommt es auch auf Gottesäckern zu ungewöhnlichen Begegnungen: Auf dem Friedhof III der Jerusalems- und Neuen Kirche am Halleschen Tor ruht in enger Nachbarschaft zu dem zerzausten Gruselerzähler E. T. A. Hoffmann ein exzentrischer Philosoph, den die Stalinisten der frühen DDR das real existierende Gruseln lehrten. Vom roten Demokraten zum grünen Diktator – das war der windungsreiche Weg des höchst eigensinnigen Wolfgang Harich. Der unbequeme Denker wurde 1923 in Königsberg geboren und wuchs in Neuruppin und Berlin auf. Die alliierten Luftangriffe nutzte der Gymnasiast als Vorwand, die Schule zu schwänzen und philosophische Vorlesungen in der Humboldt-Universität zu besuchen. Philosophie, das merkte er früh, war sein Ding! Nach einem Lazarettaufenthalt desertierte er aus der Armee und schloss sich einer Widerstandsgruppe an, die für eine kampflose Übergabe Berlins agitierte. Auch als Mitglied der SED blieb sein Oppositionsgeist wach: Als Chruschtschow 1956 die »Entstalinisierung« einleitete, bildeten sich im »Ostblock« Zirkel von marxistischen Intellektuellen, die den frischen Wind für demokratische Veränderungen im eigenen Land nutzen wollten. In der DDR war die produktivste dieser Gruppierungen der Kreis der Gleichgesinnten um den Philosophen Wolfgang Harich. Die Freunde palaverten über Änderungen des SED-Kurses und die Verbesserung der Welt. Es sollte ein Papier erstellt werden, das die Ergebnisse der intensiven Gespräche festhielt. Harich, der Sprachgewandteste der Gruppe, wurde mit der Abfassung beauftragt. Der Adressat des Papiers stand für die kommunismusbegeisterten Reformer fest: An die SED weitergeleitet sollte es eine breite Diskussion unter den Genossen beflügeln und zu Veränderungen der Partei und des ganzen Landes führen. Und nicht nur das! Es wurden sogar Wege in ein wiedervereinigtes und sozialistisches Deutschland konzipiert. So entstand die 50seitige Plattform für den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. Die darin erhobenen Forderungen haben es in sich: Absetzung Walter Ulbrichts als Partei- und Staatschef, Demokratie durch freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, weniger Bürokratie. Eine Annäherung der SED an die SPD sollte nach deren erhofftem Wahlsieg 1957 zu einer Wiedervereinigung Deutschlands als neutralem, entmilitarisiertem Staat mit sozialistischer Prägung führen. Statt sich, wie geplant, auf die SED als Adressaten zu beschränken, übergibt Harich ein Exemplar der sowjetischen Botschaft. Als Ulbricht das erfährt, warnt der Staatschef Harich im Gespräch vor weiteren Schritten. Doch der lässt ein Exemplar dem SPIEGEL zukommen und informiert dessen Chef Augstein über die Hintergründe. Ulbricht reagiert sofort. Am 29. November 1956 wird der Philosoph verhaftet wegen »Bildung einer konspirativ-staatsfeindlichen/konterrevolutionären Gruppe«. Im Prozess nimmt Harich zunächst kein Blatt vor den Mund, fällt aber plötzlich in einen ungewohnten Ton. »Ich war ein politisch durchgebranntes Pferd, das mit Zurufen nicht mehr aufzuhalten war. Wenn man mich nicht festgenommen hätte, dann wäre ich heute reif für den Galgen.« Dann dankt er der Stasi für ihre Aufmerksamkeit. Unter den Zuhörern macht sich Entsetzen breit. Als er dem Gericht auch noch die Namen von Freunden und Mitstreitern nennt, ist Harich für viele in der DDR-Opposition ein Verräter. Im März 1957 wird er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. »Ich musste mich nackend ausziehen, mir haben sie auch in den Hintern geguckt. Ich dachte, die nehmen an, ich hätte da noch etwas im Hintern versteckt gehabt. Über diese Sache war ich nicht besonders gekränkt, die arbeiten eben so, das sind deren Methoden auf der ganzen Welt.« Und: »Die eine Möglichkeit war, die Wahrheit sagen und als Volkstribun auftreten und das Tribunal zur Szene machen. Das wäre tödlich ausgegangen. Die andere Möglichkeit war, die Wahrheit sagen und Reue zeigen. Das hat mir der Generalstaatsanwalt in der Voruntersuchung geraten. Er hat mir gesagt: Ich rate Ihnen sehr dringend, Reue zu zeigen. Das habe ich getan.« Nach acht Jahren und 10 Monaten kommt Harich frei, weißhaarig, gesundheitlich angeschlagen, aber ohne Verlust des Kampfgeists. Er zieht gegen die »revolutionäre Ungeduld« der 68er-Bewegung vom Leder, gegen die »stolz zur Schau getragene Desorganisation als Manifestation vorweggenommener Herrschaftslosigkeit«. In den Siebzigern entdeckt er feministische und ökologische Themen für sich. Und geht gleich wieder in die Vollen. In seinem Buch »Kommunismus ohne Wachstum« plädiert er für eine Abkehr vom Wachstumskurs – in beiden Systemen. Der demokratiebesessene Reformer befürwortet nun eine weltweite kommunistische Diktatur, um das ökologisch Notwendige durchzusetzen. Der Konsum soll drastisch heruntergefahren, das Bevölkerungswachstum drakonisch verhindert werden. Als er auf dem Gründungsparteitag der Grünen seine Ansichten darlegt, reagieren die verhalten. Das Gespenst einer Ökodiktatur, das heute verhohlen umgeht, erlebte er nicht mehr – wohl aber die Rehabilitation durch das Oberste Gericht der DDR kurz vor Toresschluss 1990. In dem Grab am Halleschen Tor findet der rastlose Denker 1995 seine letzte Ruhe an der Seite seiner Eltern und einer Tante. Was er dem Philosophen Ernst Bloch zum 90. Geburtstag schrieb, das dürfte abgewandelt auch auf ihn selbst zutreffen: dass nämlich in der Hölle, Abteilung für Kommunisten, die Abweichler Sacharow, Havemann und Lukács ungeduldig auf ihn warten.• |