Juni 2021 - Ausgabe 230
Reportagen, Gespräche, Interviews
Zeiten der Rebellion von Sven Raben |
Ich hörte diese Musik zum ersten Mal aus dem klapprigen Kassettenrecorder meiner Freundin. Ihre Mutter hatte mich über den Garten heimlich hereingelassen in das kleine Haus am Stadtrand, das Herr Dr. Topf hatte bauen lassen. Dr. Topf war ein berühmt berüchtigter Geographie-Lehrer an einem Darmstädter Gymnasium, dessen Vorliebe es war, seine Schüler an Ohren oder Haaren zu ziehen, eine Technik, die er auch bei seinen eigenen Kindern praktizierte. Mir hatte er Hausverbot erteilt, weil ich seine Tochter vom vermeintlich rechten Weg abbrachte. Sie rauchte Haschisch, sie wollte die Schule aufgeben, sie wollte nach Indien fahren. »Der Doktor«, wie die gesamte Familie ihn nannte und noch heute nennt, sprach nie ein Wort mit mir, erst viele Jahre später, als er bereits zweifacher Großvater war und schon ein Raucherbein verloren hatte. Er rauchte weiter, bis er starb, zwei Päckchen Roth Händle am Tag. Er war ein unverbesserlicher hessischer Dickschädel. Those where the days.... Doch schlechte Zeiten waren es nicht für uns. Die Welt war noch einfach zu verstehen, sie war in zwei klar definierte Lager aufgeteilt: Auf der einen Seite standen die bösen alten Nazis, die Spießer, die Mitläufer, die Krawattenträger - und auf der anderen Seite wir, die jungen, mehr oder weniger sanften Rebellen mit den langen Haaren und den Träumen von einer besseren Welt. Wir hörten Hendrix, Pink Floyd und Genesis, Janis Joplin und Joni Mitchell. Die wenigsten von uns achteten auf die Texte. Auch ich nicht. Ich wollte Musik hören, keine Bücher lesen. Zum Rock´n´Roll gehörte ein englischer Text, den man kaum verstand. Deshalb war es mir peinlich, als meine Freundin eines Tages diese graue Kassette einschob. E-Gitarre, Bass, Schlagzeug, alles super, aber plötzlich sang da einer auf Deutsch! »Wie findest Du das?« fragte sie mich und ich brummte irgendetwas in meinen Bart. Ich fand das unmöglich, diese klaren, verständlichen Worte. Die Kassette trieb mir die Schamröte ins Gesicht, doch meine Freundin war ganz begeistert: »Das ist die Revolution. Wir werden es schaffen… hör doch mal richtig zu!« Aber ich wollte nur noch ins Bett mit ihr. Später hörte ich Ton Steine Scherben dann im Radio. Da tauchten sie immer wieder auf, fünf, zehn, fünfzehn Jahre lang. Und ich muss unterbewusst zugehört haben. Denn als ich zwanzig Jahre später nach Berlin kam, da standen diese Sätze an den hohen Brandwänden, auf den Transparenten, die von Fenster zu Fenster gespannt waren, auf den letzten Flugblättern, die noch durch die Straßen der Stadt flatterten: Sätze, die ich alle kannte, Sätze wie »Macht kaputt, was Euch kaputt macht!« - »Keine Macht für Niemand!« -»Das ist unser Haus!« Lauter Sätze mit Ausrufezeichen, Sätze, die Geschichte geschrieben haben. Erst in Berlin begann ich zu verstehen, was diese Musik für diese Stadt, für dieses Land, vielleicht sogar für diese Zeit bedeutet hat. Die »Scherben«, wie die Berliner sie nannten, spielten die Fanfaren der Revolution, die Parolen des Widerstandes, die Hymnen der Hausbesetzer. Ohne die Scherben sähe diese Stadt anders aus, das eine oder andere Haus in Kreuzberg stünde nicht mehr, hätten sie es damals nicht so deutlich und so schön und so unvergesslich gesagt: Das ist unser Haus! »Wie findest Du die Musik?«, fragte meine Freundin, da waren wir sechzehn. Die Antwort bin ich bis heute schuldig geblieben, wir sind längst auseinander. Aber unsere Kinder geben eine Antwort: Beide spielen in Bands, und beide spielen Gitarre - zu deutschen Texten! Das ist einer der Einträge auf dem »Memory Board«, das die Browse Gallery im Rahmen ihrer Ausstellung auf der Home Page veröffentlicht hat. Jeder der noch etwas zu erzählen, noch etwas beizutragen hat zum Thema Ton Steine Scherben, ist aufgefordert, es auf dieser digitalen Plattform zu tun. Sie ist Teil eines kleinen Kreuzberg-Festivals: Eine ganze Woche lang werden Ausstellungen, Konzerte, Performances, Diskussionsveranstaltungen, Filme, Stadtführungen und sogar Dampferfahrten die Geschichte von Ton, Steine, Scherben noch einmal in Erinnerung rufen. Denn die Scherben waren mehr als eine Handvoll Gitarrenspieler. Deshalb wandte sich Kai Sichtermann an das Kreuzberg-Museum. Das Haus in der Adalbertstraße schien der geeignete Ort zu sein für eine Ausstellung über die legendärste deutsche Politrockband aller Zeiten. Kaum jemand hatte den Namen Kreuzberg so weit hinaus getragen wie diese fünf Musiker: Jeder in Deutschland wusste plötzlich, wo Kreuzberg liegt und wer die BVG ist und wer Mensch Meier. Und dass man kaputt machen muss, was einen kaputt macht. Kai Sichtermann ist der Bassist der Scherben. Vor fünfzig Jahren stand er mit seinen Mitspielern zum ersten Mal auf der Bühne. Aus diesem Anlass sind zwei Konzerte geplant, eines davon in der Oranienstraße, im legendären SO36, in dem auch für die Scherben vieles erst begann. Doch weil Musik und Rock´n´Roll nicht alles war, - weil mehr im Gedächtnis bleiben soll als nur ein paar Melodien und die Texte jener Lieder, die sogar die Kids von heute noch kennen, weil zu so einer Geschichte immer auch der zeitliche und geschichtliche Kontext gehört - deshalb dachte Sichtermann von Anfang an an eine Begleitausstellung. Nachdem das Kreuzbergmuseum mit Verweis auf den vollen Terminkalender absagte, wandte er sich an die Browse Gallery. Der Ausstellung im Bethanien geht es weniger um eine Hommage an eine deutsche Musikkapelle, sondern um die Rebellion. Um das allen klar zu machen, hat John Colton, Kurator der Ausstellung, »sogar ernsthaft darüber nachgedacht, kein einziges Bild der Scherben zu zeigen!« Es geht nicht um die Scherben on stage, sondern um die Scherben backstage. Es geht um das, was dahinter steht, es geht um Auschwitzprozesse, Nationalismus, Vietnam, den Einfluss von Beatniks und amerikanischer Bürgerrechtsbewegung; um die Beatles und die Stones, Dutschke und Ohnesorg, Studentenproteste, Hausbesetzungen und Straßenschlachten am Rand der Scherben-Konzerte und am Rand der Gesellschaft. Es geht, so die Galerie, darum, »sichtbar zu machen und wertzuschätzen, was besonders und wesentlich die Scherben ausmacht, für was sie standen und stehen, ihre Haltung und ihre Botschaften. Damit zollt die Ausstellung den Scherben Tribut und festigt ihren Platz in der deutschen Popkulturgeschichte.« Die Galeristen dachten an eine Fotomontage, auf der alle die politisch Verantwortlichen jener Zeit ebenso zu sehen sein sollten wie ihre Gegenspieler: Adenauer & Springer, Hendrix & Warhol, Bader & Meinhof... So ähnlich wie auf dem Sgt. Pepper´s Album der Beatles, auf dem alle guten und bösen Geister des Jahrhunderts noch einmal versammelt waren. Ein Teil dieser Idee ist Wirklichkeit geworden, als Aufmacher und Hintergrundbild des Memory-Boards. Im Zentrum dieser Collage stehen die Scherben, umgeben von ihrem zeitlichen Kontext. »Die drei Jahrzehnte am Ende des 20. Jahrhunderts haben den Kampf um mehr Demokratie ein kleines Stück voran gebracht - auch wenn jetzt diese Hohlköpfe von der AFD im Bundestag sitzen!«, sagt John Colton. R.P.S. Lanrue, ein Jugendfreund Rio Reisers und der langjähriger Gitarrist der Scherben, hat gesagt: »Wir sind mehr als nur fünf Leute auf der Bühne! Wir sind Teil einer großen Bewegung.« Colton hatte mit seiner hübschen Idee von einer Scherben-Ausstellung ohne ein einziges Bild der Band wenig Chancen im demokratischen Procedere der Ausstellungsentwicklung. Natürlich werden Fotographien der Scherben zu sehen sein. Doch seine Grundidee vom Fokus auf dem geschichtlichen Hintergrund hat überlebt. Es werden die Anfänge gezeigt, als die Scherben »Lehrlingstheater« machten, nicht für die »intellektuelle Oberschicht«, sondern für die Lehrlinge. Die zu verstehen schienen. Ganz anders als die Generation vor ihnen, jene braven Arbeiter und Angestellten, die in haschischrauchenden Hippies nichts als Faulenzer sahen, in Studenten Schmarotzer und in Studentenführern Staatsverräter. Die Lehrlinge der Siebzigerjahre spielten mit den Scherben auf der Bühne Theater. »Das alles gehörte zusammen, war Teil einer komplexen Geschichte.« Um diese komplexe Geschichte noch einmal aufzurollen, wird es im Juni, allen Widrigkeiten der Gegenwart mit ihren Hygienekonzepten und Beschränkungen des kulturellen Lebens zum Trotz, ein Scherben-Festival geben, organisiert von der Berliner Geschichtswerkstatt, dem SO36 und der Browse Gallery. Sogar das Bezirksamt hat sich zu einer Performance am Heinrichplatz überreden lassen: Dort soll am 12. Juni der Heinrich für immer vom Straßenschild verschwinden und Platz machen für einen, der Kreuzberg wirklich zu Ruhm und Ehre verhalf: Rio Reiser von Deutschlands berühmtester Politrockband. Doch aus den legendären Kneipen am Heinrichplatz, aus der Roten Harfe, dem Weißen Elefant und Goldenen Hahn, drang Protest. »Wir wollen unseren Heini behalten!« Dass ausgerechnet die Alteinundsiebziger dagegen protestierten, wenn eine der Ikonen der Protestbewegung aufs Straßenschild kam, damit hatte die Kreuzberger Lokalregierung nicht gerechnet. Wie ernst der Widerstrand von den Stammtischen gemeint war, ist noch unklar. Aber vielleicht werden die Widerständler vom Heinrichplatz auch am 12. Juni wieder auftreten. Schließlich ist man nicht in Charlottenburg. Rebellion gehört dazu. Unruhe ist Bürgerpflicht. Sollte Rio nicht gerade, begleitet von himmlischen Chören, am Klavier sitzen und von besseren Tagen träumen, sondern auf die kleine Oranienstraße herabblicken, dann bleibt zu hoffen, dass er lächelt über die Aufregung hier unten, die man um seinen Namen macht. • |