Kreuzberger Chronik
Juni 2021 - Ausgabe 230

Hausverbot

Im Bordrestaurant


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von Dieter Peters

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Echte Kreuzberger fahren mit dem Rad. Das Auto ist ihr Feind. Auch auf den langen Strecken verzichten echte Kreuzberger auf das CO2 ausspuckende Automobil und fahren mit der Eisenbahn. Obwohl die Deutsche Bahn bei den noch echteren Kreuzbergern mindestens so unbeliebt ist wie die Deutsche Wohnen oder die Deutsche Bank. Doch ab und zu müssen die Kreuzberger ihr alternatives Eiland verlassen und ins alte »Westdeutschland« fahren. Dann gehen sie in das kleine Reisebüro hinter den Yorckbrücken, wo zwei echte Bahnspezialisten sitzen, die den halben Fahrplan auswendig kennen und immer die günstigste und beste Verbindung herausfinden. Und kaufen eine Fahrkarte. So saß also kürzlich ein Kreuzberger in einem ICE der Deutschen Bahn.
Es war ein sonniger Frühlingstag, der Mann hatte für den winzigen Preisunterschied von zehn Euro einen Sitzplatz in der 1. Klasse erstanden und sich auf die vorüberfliegende Landschaft vor den Fenstern des Abteils gefreut: Flüsse und Seen, Täler und Dörfer mit Rindern und Pferden und Klapperstörchen auf den Kaminen. Außerdem hatte er sich gefreut auf einen morgendlichen Kaffee im Bordrestaurant, inklusive freundlicher Bedienung. Auch wenn der Kaffee der Deutschen Bahn der schlechteste in ganz Deutschland war. Das Mittagessen dagegen gedachte der Kreuzberger kostengünstiger im Abteil zu sich zu nehmen. Gerade hatte er es sich gemütlich gemacht, die Tischdecke auf dem Tisch ausgebreitet, sein Baguette und seinen Ziegenkäse darauf drapiert und die Flasche Burgunder entkorkt, da öffnete sich die Tür und ein freundlicher Kontrolleur steckte den Kopf herein.
Mit der Routine eines ständig in der 1. Klasse zwischen reisenden Geschäftsmannes zog der Fahrgast das Ticket aus der Jackentasche, reichte es mit freundlichem Lächeln dem Uniformierten und wollte sich gerade seinem Glas zuwenden, als ihn lautes Räuspern unterbrach. »Ich muss Sie leider darauf hinweisen, dass der Genuss von Alkohol in den Zügen der Deutschen Bahn nicht gestattet ist.«
Der Kreuzberger war irritiert. »Aber das Bordrestaurant nebenan... da gibt es doch auch Bier und Wein... Wissen Sie, wie viele Flaschen ich schon in den Bordrestaurants...? Das hatten Sie doch sogar mal auf einem Werbeplakat, das Glas Rotwein vor der grünen Landschaft... Das kann doch nicht ihr Ernst...«Der Kontrolleur blieb pragmatisch. »Das muss aber schon eine Weile her sein, junger Mann. Vier Monate mindestens. Aber wie dem auch sei: Wenn Sie die Flasche nicht entsorgen, muss ich Sie des Zuges verweisen.«
Der Kreuzberger warf einen Blick auf die trostlosen Ebenen deutscher Agrarwirtschaft und überlegte, wie lange er laufen würde bis nach Kreuzberg. Dann entschloss er sich, den Instruktionen der Deutschen Bahn Folge zu leisten.

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