Juli 2021 - Ausgabe 231
Briefwechsel
Abschied vom Kommunikator von Wolfgang Rügner |
Zum Porträt in Ausgabe 122 - November 2010 In St. Pauli aufgewachsen, heuerte er schon mit 15 Jahren als Schiffsjunge an, fuhr später als Steward zur See und landete schließlich im Kielwasser seines Bruders, des Künstlers Karlheinz Grage, in den 70ern in Berlin. Hier machte er sich schnell einen Namen in den Szenen, wurde Wirt in so legendären Kneipen wie Leierkasten, Yorckschlösschen, Meisengeige, der Ruine am Winterfeldplatz oder der Disco Roxy in der Hauptstraße und machte im Anschluss Wohnungsauflösungen und betrieb mehrere Trödelläden in der Goltzstraße. Durch die vielen Erfahrungen verfügte Jürgen über eine phänomenale Menschenkenntnis, die ihm half, in Sekundenschnelle abzuschätzen, ob ein neuer Gast zur Runde passen könnte. Fiel der Test positiv aus, gabs ein paar freundliche Worte und schon sah sich der Neue mitten in einer Gemengelage aus Hosenträgerverkäufer, Kunstmaler, Staatsanwalt, Türsteher, Religionsprofessor, Fernfahrer, Dirigent usw. sitzen. Hautfarben und Nationalitäten wie immer bunt gemischt. Die Wintermonate verbrachten er und Gerlinde regelmäßig auf Mauritius, was zu denkwürdigen Gegenbesuchen in Berlin führte. Der renommierte klassische Pianist Wladimir Stoupel gab in ihrer damaligen Wohnung genauso Hauskonzerte wie Lillian Bouttée aus New Orleans mit ihrer Band. Oder die Kreuzberger Spitzenköche ließen sich dort von Gerlinde bekochen. Mit dem Umzug in die Wohnung über‘m Yorckschlösschen verlagerte sich diese ganze Szenerie an besagten Tisch im überdachten Außenbereich des Lokals. Manchmal erweiterte sich der illustre Personenkreis über drei weitere Tische. Mittlerweile zum Ehrengast ernannt, führte Jürgen Grage auf unnachahmliche Art und Weise Abend für Abend Regie und hinterließ so bleibende Eindrücke, dass die meisten immer mal wieder vorbei schauten. Plötzlich ist nun alles zu Ende. Der Krebs hat den großen Kommunikator »nach Bagdad« geholt. Eine Woche vor seinem 76. Geburtstag ist Jürgen verstorben. Sein Platz ist verwaist, die Runden sind Geschichte. Auch seine alljährlichen Auftritte als Auktionator der besonderen Art bei der Kunstversteigerung im Yorckschlösschen am 1. Advent wird es so nicht mehr geben. Aber es gibt noch eine kleine Auflage eines im Selbstverlag erschienenen Buches mit von Jürgen selbst aufgeschriebenen Geschichten aus seinem ereignisreichen Leben mit dem Titel »Meine Tante, deine Tante - siebenundzwanzig Unbekannte«. Erhältlich bei Gerlinde am Tisch des Grauens. Wolfgang Rügner |