Juli 2021 - Ausgabe 231
Mühlenhaupts Erinnerungen
Der Krämer vom Chamissoplatz von Kurt Mühlenhaupt |
Drei Kneipen und ein Zeitungsladen hatten wir am Chamissoplatz, in dem hauptsächlich Flachenbier und Schnaps verkauft wurde. Da im Zeitungsladen samt der Besitzerin Frau Klara Schnuckel alle ständig besoffen waren, handelte es sich auch hier mehr oder weniger um eine Kneipe mit Pornovertrieb. Unser Schuster hätte seinen Laden beinahe aufgeben müssen, denn wir alle sind ihm untreu geworden. Die Industrie schaffte die Brandsohle ab. Ohne Brandsohle kann auch ein Schuster keine Schuhe besohlen. Er weiß ja nicht, worauf er das Kernleder befestigen soll, alles nur noch Plaste. Dann kamen die Türken mit ihren Lederschuhen. Die gaben unserem Schuster noch mal Arbeit. Wir hatten früher drei Lebensmittelhändler am Platz. Aber wie überall auf der Welt, die Großen fressen die Kleinen. Nur ein einziger Kaufmann blieb übrig. Er machte das Geschäft mit der Armut. Wer hier kaufte, ließ anschreiben und konnte eine Woche umsonst leben. Man hatte ein Konto bei ihm und zahlte am Freitag. Auch der Lebensmittelhändler verkaufte Spirituosen und war eine weitere Theke am Chamissoplatz. Unser Bäcker war ein guter Bäckermeister und brauchte keinen Schnaps zu verkaufen. Er backte guten Kuchen und gutes Brot, Amerikaner, Liebesknochen und Schweineohren. Der Fleischer verkaufte keinen Schnaps, mußte aber aus diesem Grund dichtmachen. So konnte mein Bruder Willi dort einziehen. Nun hingen seine Kasperlpuppen und Hampelmänner an den Fleischhaken. Entnommen aus Kurt Mühlenhaupt, Rund um den Chamissoplatz, 1969 - 1975 |