Kreuzberger Chronik
Februar 2021 - Ausgabe 226

Kreuzberger
Herbert Breithaupt

Um eine Rolle gut zu spielen, musst du das ganze Stück kennen!


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Manchmal ging er zu Conny auf den Friedhof. Conny hatte immer zu ihm gehalten, obwohl die beiden nur für ein paar Monate ein klassisches Liebespaar gewesen waren. Sie haben beinahe 30 Jahre miteinander verbracht, auch jene Tage, in denen Herbert sich wieder einmal zurückgezogen hatte in seine kleine Wohnung mit der qualmenden Ofenheizung in der Adalbertstraße. Conny war die einzige, die er noch anrief, wenn er eine derart abgrundtief schlechte Laune hatte, dass Gespräche niemandem etwas gebracht hätten, seinem Gegenüber nicht und ihm selber erst recht nicht.

Und dann starb sie, diese beste Freundin und langjährige Wegbegleiterin. Und Herbert Breithaupt hatte viereinhalb Jahre lang abgrundschlechte Laune. Er verließ seine Wohnung viereinhalb Jahre lang nur noch, um im Supermarkt das Nötigste einzukaufen. Er traf keine Freunde mehr, er rief niemanden an, er ging nicht mehr ans Telefon, und wenn er im Treppenhaus die Nachbarn traf, dann sagte er nur noch »Hallo!«. Mit einer tonlosen, trostlosen, kraftlosen Stimme. Und ging weiter.

Das war immer so gewesen, wenn er abtauchte. Aber er war noch nie so lange abgetaucht. »Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Ich kann das gar nicht glauben, dass das vier Jahre gewesen sein sollen.« Er lacht. Herbert Breithaupt lacht viel und lacht gerne. Wenn er nicht auf dem Rückzug ist, dann ist er auf dem Vormarsch. Dann sitzt er da, optimistisch wie Fidel Castro, mit der Zigarre in der Rechten, dem Bart und dieser militärisch-olivgrünen Schirmmütze auf dem Kopf. Keine Spur von Traurigkeit. Im Gegenteil: Er ist voller revolutionärer Ideen. Jedes Mal, wenn er wieder herauskommt aus seinem Schneckenhaus mit Ofenheizung, quillt er über vor Ideen. Und ist sich beinahe sicher: »Ich werde die Welt verändern«.

Herbert Breithaupt hat schon viel versucht, um die Welt zu verändern. In den Siebzigern war er auf der Straße, demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und gegen die Atomkraft. Er verweigerte den Kriegsdienst und trat »den Marsch durch die Institutionen« an, ließ sich als feindliches Element ins System einschleusen und war Referendar, um die Kinder für eine bessere Welt zu erziehen. »Doch die Schule war die Hölle!« Danach stand er mit Punkbands auf Kreuzbergs Bühnen, hängte Bilder an Kreuzberger Kneipenwände, verteilte Mantras an Freunde und solche, die es hätten werden können. Und er entwickelte die Kunstfigur Ho Ka He, einen Indianer, den Gegenentwurf zum Europäer, die Antithese zur westlichen-, wenn nicht sogar zur Welt schlechthin.

Jetzt gerade schreibt er. Er packt ein Büchlein mit handgeschriebenen Gedichten auf den Tisch, überraschende, humorvolle, geistreiche Zeilen. Sie haben etwas von Nerudas Sprunghaftigkeit, etwas von Ringelnatz´ Sinn für Unsinn - angereichert mit einer Prise fernöstlicher Weisheit. Es sind Worte von spielerischer Leichtigkeit darunter, denen man die Düsternis der viereinhalb Jahre in der Hinterhofwohnung nicht anmerkt. Aber es gibt auch die dunklen Worte, in denen jener Herbert Breithaupt sichtbar wird, der so lange auf seinem Bett lag, bis er nicht mehr laufen konnte. Bis er sich so schwach fühlte wie der Alte aus den Webern, den er mit den Ratten von der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz gespielt hatte. »Der Alte bei den Webern musste ja auch schon am Stock gehen.« Aber auf der Bühne war es ein Spiel gewesen, jetzt, in seinem ganz privaten Rattenloch, war es ernst geworden.

Seit einem halben Jahr ist er wieder auf der Straße. Draußen vor der Tür. Sagt im Treppenhaus mehr als nur »Hallo«. Meldet sich bei alten Freunden: »Ich bin wieder da.« Er geht sogar »auf Deutschlandtournee«, fährt nach Düsseldorf, wo Connys Tochter wohnt, die fast so etwas wie seine Tochter ist. »Als die fünf Jahre alt war, brachte ich sie mal morgens zur Kita. Die Erzieher deuteten auf mich und fragten, wer denn der Mann da sei, und die kleine Daniela hat gesagt: Das, äh... , das ist mein Freund!« Er besucht Szuszi, die rumänische Künstlerin, in der Psychiatrie, und Reiner, seinen alten Schulfreund in Darmstadt. Bis nach Villingen ist er gefahren, wo seine Mutter noch lebt und sein älterer Bruder. Aber in Villingen kommt er sich wie ein Eindringling vor in einer ihm fremden Welt. In Villingen ist man zufrieden mit der Welt, so wie sie ist. In Villingen braucht man keine großen Veränderungen. Aber Herbert Breithaupt will die Welt verändern, heute noch genau wie damals, als sie gegen die Vietnampolitik der Amerikaner auf die Straße gingen. Zuerst in Freiburg, später in Berlin.

Und dann, irgendwann, entdeckte er die Kunst. »Kunst will zeigen, wo es lang geht!« Und »in der Kunst ist für jeden schrägen Vogel Platz.« Nirgends sind die Freiräume größer als in der Kunst. Also hat er kürzlich die Galerie Zeitzone gemietet, in der Adalbertstraße, für einen ganzen Monat. »Ich kenne den Ralf schon seit zwanzig Jahren, und der Laden läuft gerade nicht so gut. Maskenpflicht, Alkoholverbot, Sperrstunde ...«. Breithaupt hat nicht viel Geld, aber Beuys hat es in seiner Anleitung zum besseren Leben geschrieben: Man muss abgeben. Also hat Breithaupt seinem Freund Geld angeboten, aber der lehnte vehement ab. Da meinte Herbert: »Ok, dann miete ich eben die Galerie und mache eine Ausstellung.«

Dann koppelte er den kleinen Anhänger an sein altes Fahrrad und fuhr die halbe Wohnungseinrichtung in die Adalbertstraße 23. Denn, wie schon Beuys sagt: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Erst recht Herbert, der Maler, der Dichter, der Aktionskünstler. Was Herbert Breithaupt dort ausstellt, das sind nicht nur Kunstprodukte, das ist er selbst. Er selbst mit seinen im Raum und auf dem Boden verteilten Gedichten, mit den Zeichnungen und den Fotografien an der Wäscheleine, dem Altar mit Buddha und Räucherkerze, mit seinem Werkzeugtisch und seinem Frühstücksgedeck, mit seiner Leseecke und seinem Nachttisch mit dem Tabakbeutel, dem Aschenbecher und dem Steppenwolf als Nachtlektüre.


Ho Ka He und der Weiße Mann
Jack London liegt nicht mehr neben seiner Schlafstelle, die Jahre sind lange vorbei, als er dem amerikanischen Abenteurer bis nach Amerika folgte und auf einen dieser ewig langen Getreidezüge aufsprang, die nach Phoenix rollten. »Ich hatte es mir gerade einigermaßen gemütlich gemacht auf der kleinen Plattform ...« erinnert er sich, »... und dann hält der Zug mitten in der Landschaft an und ich höre Schritte im Kiesbett. Genau wie im Buch. Also verkrieche ich mich in eine kleine Nische, damit mich niemand findet, aber die Schritte kommen zielsicher genau auf mich zu. Und dann sind wir beide ganz furchtbar erschrocken. - Sie waren zu zweit, zwei Schwarzarbeiter aus Mexiko. Wir haben uns das Essen aus meinem Rucksack geteilt, und weil es kalt wurde, habe ich Ihnen noch was zum Anziehen gegeben - die hatten ja fast nichts am Leib.«

Sogar sein Zelt hat er mitgebracht in die Adalbertstraße und vorübergehend auf der Bühne sein Lager aufgeschlagen, sein kleines, mit bunten Decken ausgelegtes Tipi mit der Stofftierpython namens Monty. Hier, in der Zeitzone, wo weder Zeit noch Ort Bedeutung haben, kann die Öffentlichkeit nun Herbert Breithaupt mit allen seinen Kunstfiguren begegnen. Jede dieser Figuren ist eindrucksvoll. Schließlich gibt es einen Grundsatz in seinem Leben, der stammt noch von seinem Freund Tino, der vor dreißig Jahren gestorben ist: »Um eine Rolle gut zu spielen, musst du das ganze Stück kennen.«

Breithaupt kennt das Stück, er spielt seine Rollen gut: die als Schriftsteller, die als Aktionskünstler, die als Indianerhäuptling Ho Ka He. »Ich bin tagelang hin und her gefahren, und ich fahre noch immer, um den Kram aus meiner Wohnung hier rüberzuschaffen. Ich glaube, ich muss mit Ho Ka He mal ein ernstes Wort reden!«, meint Herbert Breithaupt, »der wird mir langsam zu arrogant: Mach mal dies, hol mal das, räum mal auf! Ich bin die ganze Zeit am Ackern nur für Ho Ka He!«

In der Galerie
Er ist ein Mensch voller Ideen. Falls er nicht gerade vollkommen leer ist. Dazwischen gibt es nichts. Wenn er nicht auf dem Rückzug ist, dann ist er auf dem Vormarsch. Dann geht es um die Revolution. Dann kämpft er, auf der Straße, im Supermarkt, in der Galerie, in seinen Gedichten, in seinen Bildern, seinen Gesprächen. Dann zieht er während des Essens mit einem alten Bekannten das Notizbuch aus der Tasche, um ein Gedicht vorzulesen: »Ich lese Dir mal ein Gedicht vor, es ist auch nicht lang, keine Sorge. Es heißt: Zehn Regeln zur Revolution.« Dann lacht er und rezitiert:

1. Streiche das Weiße Haus mit Deinen Lieblingsfarben an.

2. Mache die Regeln 2 bis 10 selbst.

Breithaupt kämpft überall und an vielen Fronten, aber immer an den vordersten, und immer gegen die gleichen erbitterten Feinde: Gleichgültigkeit und Dummheit. Wenn ihm der Müll in den Kreuzberger Höfen und auf den Wiesen und Gehstiegen zu viel wird, dann nimmt er ihn und wirft ihn demonstrativ auf die Fahrbahn. »In dem Moment kommt eine Streife um die Ecke, Hey, was machen Sie denn da? - Ich erkläre den Beamten, dass ich den Müll öffentlich mache. Es gibt eine lange Diskussion, dann darf ich mich wieder umdrehen und gehen. Aber dann muss ich pupsen, und da ruft mir der Bulle noch hinterher: Pupsen Sie nicht, wenn ich mit Ihnen rede

Breithaupt hat viele Gesichter. Mit dem Stirnband erinnert er an John Lennon, mit dem militärgrünen Käppi an Fidel Castro, mit dem nachdenklichen Blick hinter der Nickelbrille an einen Schriftsteller. Passend zu den vielen Gesichtern hat er auch viele Namen: »Da ist erst mal Herbert, der kleine, gequälte Mensch. Dann ist da Herb, der ist für die Realität zuständig. Dann Ho Ka He, der Indianer, und Cptn. Allemann, den ich aber sehr ungern spiele. Eine schwierige Rolle. Erinnert mich manchmal an Adolf Hitler. Und dann sind da noch Braveheart William Wallace und der jüngere Bruder von Che Guevara. Das sind sechs, also hab ich jetzt noch drei freie Stellen anzubieten. Ich denke gerade an Gandhi, Gandhi war schon beeindruckend...«

Aber all diese Namen, all diese Gesichter sind Facetten einer Person, und sie alle verfolgen ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die Welt verändern. Weil sie unzufrieden sind mit dem Zustand dieser Welt. Es ist immer dieselbe Idee, egal, ob er gerade die Aktiengesellschaft Ho Ka He World Enterprises gründet oder ob er die Wiedergeburt von Che Guevaras Bruder ist. Ob er ein weiser Indianerhäuptling, ein Schüler Buddhas oder der namenlose Dichter ist, dessen Verse um einige wenige, aber große und uralte Träume kreisen. Er hat immer das gleiche Ziel vor Augen, seine Gedichte sind ein ewiges Mantra wiederkehrender Worte. Worte, die oft ganz oben stehen über seinen Versen, pathetische und unsterbliche Worte, Worte wie Gott oder Schönheit, Traum oder Mensch, Liebe oder Angst oder Krieg. Imagine, schreibt der Mann mit der Nickelbrille und dem Stirnband über eines seiner Gedichte:

»Stell Dir vor, Du bist ein Wald / Und alle Deine Bäume sind Brüder und Schwestern / Stell Dir vor, Du lebst in Frieden /..... •

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