Kreuzberger Chronik
Februar 2021 - Ausgabe 226

Geschichten & Geschichte

O ewich ist so lanck! (15):
Der Geschichte 15. Teil: Adelbert von Chamisso



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von Eckhard Siepmann

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Chamissos Grabwunsch wurde von seinen Angehörigen akribisch erfüllt: »Ich will ganz ohne Prunk und in der Stille in die Erde versenket werden. Es mögen nur ein paar Freunde sehen, wo meine Asche bleibet, und sich niemand sonst bemühen. Ich verbiete auf jeden Fall jegliche andere Grabinschrift als meinen Namen, nebst Datum der Geburt und des Hinscheidens.«

Im Jahr 1890 hatte es einigen poesieliebenden Stadtplanern gefallen, einen gerade fertiggestellten Platz nahe Berlin und dem sandigen Kreuzberg nach dem langhaarigen und kettenrauchenden Dichter Chamisso zu benennen. Was mag sie dazu bewogen haben? War ihnen die poetische Qualität des Platzes aufgefallen? Oder ahnten sie gar, dass 100 Jahre später eine Bohème ganz ähnlicher Erscheinung die umliegenden Häuser bevölkern würde? Wie auch immer, noch heute transportiert der Begriff Chamisso-Kiez eine Ladung poetischen Dufts, den sowohl die alternde Bohème als auch die jüngere zugezogene bürgerliche Mitte mit stillem Wohlgefallen genießt.

Gehen wir diesem Duft nach! In einem heruntergekommenen Schloss in der weinbestandenen Champagne kam 1781 ein Baby auf die Welt, dem seine Eltern, verarmte Adelige, den wohlklingenden Namen Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt gaben. Als acht Jahre später revolutionäre Franzosen das zentrale Pariser Gefängnis stürmten, die Privilegien des Adels begruben, den König einen Kopf kürzer machten und die Gentilhommes an den Laternen aufhängten, flohen die Eltern mit ihren sechs Kindern nach Osten, irrten vier Jahre lang umher und ließen sich schließlich nach vielen Umwegen in Berlin nieder.

Der junge Louis Charles Adélaïde, jetzt Adelbert genannt, arbeitete als Maler für die Königliche Porzellanmanufaktur und wurde gar Page der Königin. Als eine Prinzessin bei ihrer Vermählung ein Kleid trug, »welches einschließlich der von mehreren Pagen getragenen Schleppe durch die Last der Goldstickerei einen ganzen Zentner gewogen haben soll«, war Adelbert einer der Schleppenden. Schon während seiner Pubertät litt er unter einer Hoffnungslosigkeit und Depressivität, die lange sein Leben bestimmen sollte. »So stand ich in den Jahren, wo der Knabe zum Mann heranreift, allein, durchaus ohne Erziehung; ich hatte nie eine Schule ernstlich besucht. Ich machte Verse... Irr an mir selber, ohne Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt verbrachte ich in Berlin die düstere Zeit.« Als Franzose unter Preußen, als Adeliger unter Bürgern, als Dichterblüte unter hartgesottenen Pragmatikern – Chamissos Zerrissenheit wurde zum basso continuo seiner Dichtung.

Relikte des Chamissoplatzfestes: Wasserturm 2005










Er entschließt sich zum Militärdienst, wird Fähnrich, schließlich Leutnant. Seine Wachstube am Brandenburger Tor wird zum Treffpunkt einiger gleichgesinnter, schwadronierender und dichtender Jugendlicher. Das Jahr 1813 stürzt ihn in ein Dilemma: Was soll er als Franzose in der preußischen Armee tun, wenn die Truppen von Russland, Österreich, Schweden und Preußen gegen die französische Armee Napoleons kämpfen? Seine Freunde drängen ihn zur Flucht aus dem nationalistisch aufgeheizten Berlin.

Im Oderbruch findet er Unterschlupf im Landgut einer befreundeten Familie. Chamisso frönt seiner wissenschaftlich fundierten Liebe zu Pflanzen, und nebenbei schreibt er, während in Leipzig die Völker aufeinander einschlagen, eine Erzählung für die Kinder seines Bekannten Hitzig - kurz vor und nach der »Völkerschlacht bei Leipzig«. Die Idee zu dieser Novelle, die die Welt erobern sollte, entsprang einem ganz alltäglichen Gequatsche unter Freunden nach einem Ausflug: »Ich hatte auf einer Reise Hut, Mantelsack, Handschuhe, Schnupftuch und mein ganzes bewegliches Gut verloren; Fouqué frug, ob ich nicht auch meinen Schatten verloren habe, und wir malten uns das Unglück aus.« Ein Welthit kündigt sich an.

Adelbert mixt ein folgenreiches Smoothie aus drei Denkfiguren: Er sinniert über sein verpfuschtes Leben, er liebkost im Geist seine Pflanzen, und er fantasiert unermüdlich um den geheimnisvollen Mann ohne Schatten. Hat er, der geplagte Adelbert, nicht selbst verloren, was andere Leute ständig begleitet wie ein Schatten: Vaterland, bürgerliches Ansehen, finanzielles Ruhekissen? Er macht mit der Feder in der Hand aus seinem Leben ein Spinngewebe aus Märchen und Realität: Ein junger Mann, der im Leben nicht recht Fuß fasst, begegnet ein paar Schritte abseits einer Party dem Teufel in Gestalt eines grau gekleideten höflichen Herrn. Dieser unheimliche Herr bietet Peter einen Zaubersack, der unerschöpflich Gold produzieren kann, im Tausch gegen Peters Schatten. Schlehmil willigt ein - und wird ohne Schatten unglücklich. Interessante Frauen wenden sich von ihm ab, wenn sie seinen Makel entdecken, Kinder machen sich lustig. Als er den Teufel erneut trifft, bietet der ihm die Rückgabe des Schattens gegen seine Seele. Peter zeigt sich gereift: Er lehnt ab, gerät mit Siebenmeilenstiefeln in das Land der Botaniker und findet schließlich seine Ruhe als engagierter Naturwissenschaftler.

Chamisso entwirft, ohne es zu wissen, in der Märchensphäre seine wirkliche Zukunft: Nach einer dreijährigen abenteuerlichen Weltumrundung in einer Zweimaster-Nussschale globalisiert er seine Pflanzenkenntnisse, schreibt botanische Bücher, wird gar Direktor des Botanischen Gartens, zieht in die Friedrichstraße und stirbt 1838 an Lungenkrebs. Der Trauerzug hat es nicht weit bis zum Halleschen Tor, zum heutigen Friedhof III der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde. Dort, wie auch sonst in der Welt, kommen die Toten gut ohne ihren Schatten aus. •

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