Dez. 2021/ 2022 - Ausgabe 235
Strassen, Häuser, Höfe
Die Eisfabrik in der Köpenicker Straße 40 /41 von Werner von Westhafen |
Als in den Jahren nach dem Fall der Mauer die Kapitäne der Reederei Riedel ihre Ausflugsdampfer wieder die Spree aufwärts in Richtung Osten steuern durften, sahen die Touristen auf den Sonnendecks backbords bei der Schillingbrücke einen imposanten Industriebau: Ein großes, rostrotes Backsteinensemble mit Schornsteinen, einem Maschinen- und einem Kesselhaus und mehreren Lagergebäuden. Es handelte sich um die letzte originale Eisfabrik Deutschlands, einen beeindruckenden Zeugen aus der Blütezeit Berlins. 1990 war die Eismaschine noch in Betrieb und die Kühlhäuser waren noch voll, doch 20 Jahre später faszinierte das Areal nur noch durch seinen maroden Charme, die hohläugigen Fenster, die einstürzenden Mauern - Metaphern für den Zusammenbruch der DDR. Das Filetgrundstück an der Spree verkam zum Spekulationsobjekt. 2010 ließ die Treuhand drei der historischen Kühlhäuser abreißen, die Kosten dafür beliefen sich auf 3 Millionen Euro. Die alten Mauern waren für die Investoren nur noch Ballast. Errichtet hat die Mauern eine Berliner Legende: Bimmel Bolle, Berlins berühmtester Milchmann. Begonnen hatte der clevere Waisenknabe seine Karriere zunächst als Maurergeselle, dann als Bauunternehmer. Zwei Jahrzehnte später gab es Bolles Seefisch Handelsgesellschaft, Bolles Obstplantagen, Bolles Konservenfabrik und Bolles Baumschulen. Weil ihm der Mist, den ihm die Bauern zum Düngen der Bäume anlieferten, zu teuer wurde, schaffte er sich 30 eigene Kühe an. Das Nebenprodukt, die Milch, verkaufte er in Bolles Milchausschank, bei den Berlinern besser bekannt als »Bolles Kuhdestille«. Das Milchgeschäft lief so gut, dass Bolle 1881 die ersten drei bimmelnden Milchwagen an den Start brachte, an Bord der noch von Pferden gezogenen Kühlwagen Butter und eisgekühlte Frischmilch, die den warmen Eutersaft aus Berlins Hinterhöfen schnell in Vergessenheit geraten ließen. Das Geschäft florierte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts fuhren bereits 250 Bimmelwagen durch die Straßen. Mit Paternoster-Aufzügen wurden die überdimensionalen Eiswürfel in die hohen, mit Holzspänen isolierten Speicher transportiert, wo sie bis zum Herbst gelagert werden konnten. Nur ein Viertel der eisigen Ware schmolz in den Sommermonaten, so dass die Brauereien das ganze Jahr ihr Bier kühlen konnten. Da die Nachfrage nach Kühlung weiter anstieg, kaufte Bolle ein altes Holzlager an der Spree und errichtete an der Köpenicker Straße 40/41 das erste Kühlhochhaus Deutschlands, sowie eine Eisfabrik zur Produktion von künstlichem Stangeneis. Aber es waren längst nicht nur mehr die Brauereien, die ihre riesigen Eiskeller füllen mussten: Der Kühlschrank war erfunden worden! Lebensmittelhändler, Gaststätten und vornehme Privathaushalte kauften Bolles Stangeneis. Und diejenigen, die sich keinen eigenen Kühlschrank leisten konnte, brachten verderbliche Ware in Bolles Kühlhaus, wo 7000 Quadratmeter Lagerfläche vermietet wurden. Als Bimmel-Bolle 1910 alle Tätigkeiten einstellte und sich in Schöneberg zu Grabe tragen ließ, lagerten Waren im Wert von 10 Millionen Mark in seinen Kellern: Fleisch, Fisch, Kaviar, Austern… . Geblieben von all dem Gründerzeitglanz ist nicht viel. Zwar stehen das Kesselhaus mit seiner »neuklassizistischen Ziegelarchitektur« und das Maschinenhaus »mit seinem tempelartig ausgebildeten Giebel« und natürlich auch das Hauptgebäude an der Köpenicker Straße unter Denkmalschutz, doch 2010 gehörte das erste Kühlhochhaus Deutschlands bereits der Geschichte an. Vom repräsentativen Hauptgebäude, dem ehemaligen Wohn- und Kontorhaus an der Köpenicker Straße, hat der Krieg nicht viel übrig gelassen. Auch dort, wo einst, wie auf einer Loge, hoch oben unter dem Dreieck des Frontgiebels die tonnenschwere Skulptur eines überlebensgroßen Eisbären auf die belebte Straße hinabblickte, schlug eine Bombe ein. Zwei Drittel des Günderzeitpalastes wurden zerstört. Nach Kriegsende verlor das Gebäude an der Straße schnell an Wert. In der Eisfabrik wurden noch bis in die Siebzigerjahre hinein ca. 1200 Zentner Eis täglich produziert, doch schon wenige Monate nach dem Mauerfall wurde die Produktion eingestellt. Drei Jahre später schaltete man in den Kühlhäusern den Strom ab. Aber die Liebe der Nachbarn zu ihrer alten Fabrik war groß. 2009 kam es vor der bröckelnden Fassade des Wohngebäudes zu einer Demonstration, doch 2017 wurden Vorderhaus und Höfe verkauft. Nun stehen gigantische Baukräne auf dem Gelände und drehen sich um das denkmalgeschützte Maschinenhaus und das Kesselhaus, zwei verloren wirkende Relikte zwischen den Monumentalbauten der Trockland Management GmbH. Auch das Haus gegenüber, eines der letzten besetzten Häuser Berlins, wurde kürzlich geräumt. • Quellennachweis: Die Eisfabrik, Broschüre des Bürgervereins Luisenstadt ev.; 2021 |