Dez. 2021/ 2022 - Ausgabe 235
Kreuzberger
Efterpi Kleani Plötzlich musste die Richterin laut lachen
von Ina Winkler
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Sie hatte der Mutter erzählt, sie habe einen Studienplatz in Berlin. Diese Lüge war notwendig gewesen. Die Mutter hätte sie nie nach Deutschland gehen lassen. Doch für die Tochter war es an der Zeit, das Dorf in den Bergen zu verlassen, in dem man nichts anderes tun konnte als Tavli spielen, und in dem sie bereits alle Bewohner geschlagen hatte, sogar den Vater, den unumstrittenen Champion der Berge. Jahrelang hatte er, als ranghoher Offizier auf verlorenem Posten stehend und einen guten Teil seiner Arbeitszeit bei Kaffee, Ouzo und Tavlispielen in den Kafenions verbringend, gegen sie gespielt und immer gelächelt dabei. Nun lächelte er nicht mehr. Nun verlor er. Gegen die eigene Tochter! Einmal die Woche treffen die drei sich zum Spiel. Sie führen akribisch Buch über Siege und Niederlagen. Zuerst lag der Deutsche vorne, aber die letzten Abende gingen alle Spiele an Efterpi oder Andreas. »Die haben einfach nur Glück!«, flucht der Surfer von Paros und weiß, dass das nicht stimmt. Es gibt kein Glück im Spiel. Jedenfalls nicht unter Spielern. Nicht unter Profis, nicht unter Griechen. Die Freitagabende nach den vielen Stunden zwischen Aktenordnern und Gesetzbüchern, nach den langen grauen Tagen im Licht der Glühbirnen mit den ständig klingelnden Telefonen und den aufgeregten Klienten sind für Efterpi Kleani so etwas wie Relikte aus einer anderen Zeit; letzte Verbindungen zur Heimat und einer Welt, in der es Wölfe und Bären gab, in der man noch Holz sammelte für den Winter, in der es nicht viel mehr gab als die Berge und die Tiere und die Menschen und das Radio und irgendwo da hinten die große Stadt. Die Mutter hatte Tränen in den Augen, als die Tochter das Dorf verließ, um in Berlin zu studieren. Efterpi blieb gar nichts anderes übrig, als weiter zu lügen: Sie rief an und erzählte, dass sie eine schöne Wohnung hätte, dass sie mit dem Studium begonnen und ein Stipendium erhalten hätte. In Wahrheit stand sie auf dem Weihnachtsmarkt, um ein paar Euro zu verdienen, bei 15 Grad Minus, und fror bitterlich. Das schlimmste aber waren die Zahnschmerzen. Sie hielt durch, bis zum Heiligen Abend, bis die Glocken läuteten, und während ihre Freundinnen in der kleinen Wohnung im kleinen Wohnzimmer saßen und aßen und tranken und lachten, lag sie im Nebenzimmer und heulte. Um drei Uhr morgens, als die anderen endlich gegangen waren, rief sie ein Taxi und versuchte mit den drei Worten Deutsch, die sie sprach, zu erklären, dass sie eine Zahnklinik suche. Der Taxifahrer fuhr einmal quer durch die Stadt bis ans Ende der Welt, aber in der Klinik war alles dunkel. »Achtzig Euro hat der Kerl mir abgenommen, mein letztes Geld. Ich war 28, aber ich habe geheult wie ein kleines Kind und nach meiner Mama gerufen. Ich wollte nur noch nachhause!« Die ersten Jahre in Berlin waren nicht leicht für die Frau aus Griechenland. Sie träumte von den gefüllten Tomaten ihrer Mutter, dem Zicklein aus dem Backofen. Gedichte! Berlin war prosaisch. Pizza. Pommes. Currywurst. Döner. Sie hatte Heimweh. Auch in der kalten Novembernacht, als sie um drei Uhr morgens allein an der dunklen Haltestelle stand, wollte sie nur noch nachhause. Wenigstens nachhause bis zum Kottbusser Tor. Aber der Bus kam nicht, und sie war froh, als ein junger Mann schüchtern grüßte und am anderen Ende der Bank Platz nahm. So kamen sie ins Gespräch, zwei Fremde in einem fremden Land, ein indischer Student und eine griechische Studentin. Als sich ihre Wege trennten, hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht. Sie traf ihn in einem Café, Kuma erzählte ständig von Indien, er hatte Heimweh, genau wie sie. Sie trafen sich öfter, tranken und erzählten sich von Indien und von Griechenland. Sie telefonierten oft miteinander. Mehr geschah nicht. Sie telefonieren heute noch, wenn auch nur mehr selten - seit diesem Besuch im Café IchOrya in der Oranienstraße. Efterpi kam gerade aus dem Museum zurück, in dem sie sich für einen Studentenjob beworben hatte, »aber ich war mir sicher, dass die mich ablehnen.« Und dann stand da hinterm Tresen plötzlich Tevfik, der Besitzer dieser Bar am Oranienplatz. Und Tevfik suchte dringend eine Tresenkraft. Er stützte den Kopf aufs Kinn und musterte die Griechin. Irgendwann sagte er: »Du, Kuma, das ist jetzt wirklich nichts gegen dich, ich finde dich sehr sympathisch, aber ich würde Efterpi gerne mal alleine sprechen. Geht das?« Als der Barbesitzer dann mit ihr am Tresen saß und sie ihn fragte, was denn nun sei mit dem Job, da sagte er nur: »Ich stelle keine Leute ein, mit denen ich eigentlich flirten möchte.« Das klang wie der Beginn einer romantischen Liebesgeschichte, und als die Jurastudentin tags darauf vom Museum erfuhr, dass sie den Job bekommen hatte, da dauerte es nicht mehr lange und sie stand wieder am Tresen des Cafés und sagte: »Ich brauche deinen Job nicht mehr. Wir können flirten.« Das ist nun lange her und Efterpi ist keine Studentin mehr. Sie verteilt auch keine Audioguides mehr auf der Museumsinsel. Sie arbeitet in ihrer Kanzlei und kämpft, Bastionen von Gesetzbüchern im Rücken, für Recht und gegen Unrecht. Sie geht in Berufung mit dem jungen Griechen, der, als die Polizei ihn zu Boden warf und ihm die Kehle zudrückte, sich nicht anders zu helfen wusste als zuzubeißen wie ein Tier. Was ihm eine Anklage wegen Körperverletzung und einen Schuldspruch einbrachte. Die einzigen Zeugenaussagen kamen aus einer geschlossenen Reihe von Polizisten. Efterpi Kleani kann so etwas nicht akzeptieren. Sie geht in Berufung, auch wenn sie nichts verdienen wird an dem armen Kerl. Sie wird diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Sie ist eine Kämpferin, eine Spielerin und wenn ein Anwalt der Gegenseite - einen Arm lässig über die Rückenlehne geworfen, die Beine breit gespreizt wie ein amerikanischer Cowboystar - sie jedes Mal, wenn sie das Wort ergreift, blöde angrinst, dann läuft sie zur Hochform auf. »Könnten Sie den Herren bitten, sich weniger provokant zu positionieren?«, fragt sie die Richterin, und wenn die dann meint, sie könne niemandem vorschreiben, wie er sich hinzusetzen habe, dann hat die Richterin schlechte Karten. So etwas vergisst und vergibt die Griechin nicht, ebenso wenig wie diesen Satz eines Richters: »Sie sind hier vor einem deutschen Gericht, Frau Kleani, nicht vor irgendeinem....« Dagegen sind die Freitagssiege nur ein bescheidenes Glück. Die Freitagsniederlagen aber sind so schmerzlich wie die Niederlagen im wahren Leben. Efterpi Kleani kann über ein verlorenes Spiel so unglücklich sein, dass selbst Tevfik sie nicht mehr trösten kann. »Kann ich noch etwas für Dich tun?«, fragte Andreas aus Ithaka eines Tages Tevfik in seiner Bar. »Ja, lasse Efterpi heute Abend gewinnen!« Manchmal, wenn sie verloren hat, ruft sie die Mutter an. Die Mutter, die schon immer Trost wusste, die noch immer in den Bergen lebt, den Garten bestellt und Tomaten einkocht, um sie nach Berlin zu schicken, jene Stadt in Deutschland, wo ihre Tochter jetzt eine eigene Kanzlei hat! Am Anfang, wenn die Leute im Dorf fragten, wo denn ihre Tochter sei, dann hatte sie mit einem tiefen, traurigen Seufzer antworten müssen. Heute sagt sie es mit stolzer, fester Stimme: Efterpi ist in Berlin! Ab und zu schickt sie Pakete voller Köstlichkeiten aus dem eigenen Backofen. Manchmal steigt sie auch ins Flugzeug und liefert diese Pakete persönlich ab. Zwei Mal ist sie in diesem Jahr schon in Berlin gewesen. Und fühlt sich fast auch schon wie eine Berlinerin, sitzt in dem Café nicht weit von der Kanzlei und plaudert mit der Café-Besitzerin, mit Händen, Füßen, Gesten und drei Worten Deutsch oder Griechisch oder Englisch. Sie wird jetzt öfter kommen, und im Gepäck wird sie anstatt der Tomaten winzige, aus griechischer Wolle gestrickte Hemdchen und Höschen haben, und winzige Schühchen für das Enkelkind. Und einen Schnaps für Tevfik, den Schwiegersohn. »Berlin«, dieser Name hat für sie plötzlich einen ganz anderen Klang bekommen. Die kleinen Lügen hat sie der Tochter längst verziehen. Sie fragt auch nicht mehr: »Was haben wir dir nur getan, dass du so weit wegziehen musst?« Heute sagt sie: »Ach, Berlin ist doch eigentlich ganz schön nah!« • |