Dez. 2021/ 2022 - Ausgabe 235
Reportagen, Gespräche, Interviews
Die Drei von der Markthalle von Hans W. Korfmann |
Am 24. Dezember 2020, am schon dunklen Nachmittag, regnete es. Das Thermometer zeigte 7 Grad über Null, keine Spur von Schnee, kein Weihnachtsmarkt auf dem Platz vor der Markthalle, kaum Verspätete, die noch schnell ein Geschenk kauften in den trotz der Seuche eigens für Weihnachten wieder geöffneten Geschäften. Keine Väter, die mit ihren Kindern an den erleuchteten Schaufenstern vorüber zogen, während die Mütter den Baum schmückten und die Geschenke darunter drapierten. Selbst zum Gottesdienst in die Kirche waren nur wenige gekommen, die Angst vor der ansteckenden Krankheit ließ auch die Gläubigen an Gottes Gnade zweifeln. Der Heilige Abend des Jahres 2020 hatte nichts Feierliches mehr an sich, es war ein ungemütlicher, finsterer Heiliger Abend. Eingepackt in dicke Anoraks, ihre wenigen Habseligkeiten mit Plastiktüten vorm Regen schützend, standen drei obdachlose Männer im überdachten Hintereingang zur Marheinekemarkthalle und ließen eine Flasche Schnaps herumgehen. Sie waren, trotz aller Tristesse dieses Abends, bestens gelaunt, sie lachten, erzählten und sangen Weihnachtslieder. Wer in der Kirche gerade noch vom Glauben abfallen wollte, der konnte beim Anblick dieser drei Gestalten in der Nacht, die weniger an die Heiligen Drei Könige, sondern eher an Wladimir und Estragon erinnerten, die beiden Landstreicher, die auf Becketts Godot warteten, plötzlich lächeln und vor sich hinmurmeln: Und es gibt ihn doch! Einer der drei Männer, die schon zu tanzen begonnen haben vor lauter guter Laune, ist ein hoch gewachsener, weißhaariger Grieche mit großen Händen und einer dunklen und lauten, aber immer freundlichen Stimme. Die Männer unterhalten sich in einer merkwürdigen Sprache, einer Mischung aus Deutsch, Bulgarisch und Griechisch, und am Schluss, als der Große die beiden anderen verlässt, sagt er: »Kala Christujena«. Fröhliche Weihnachten. Der große Mann mit den weißen Haaren heißt Christos. Er hat den Beiden etwas mitgebracht an diesem Abend. Er bringt ihnen jeden Tag etwas mit, Hähnchenschenkel aus der Markthalle zum Beispiel, Bouletten oder Würstchen oder einen heißen Kaffee. Aber an diesem Abend hat er etwas Besonderes für sie eingepackt, etwas, das seine Frau für sie zu Weihnachten gemacht hat. Christos ist kein Heiliger. »Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch!« Und wie andere Menschen auch ging er eines Tages an diesem kleinen Zeltlager vor Rossmann vorbei. Er gab den Männern einen Euro, so wie viele andere auch. Aber dann blieb er stehen, so wie nur wenige andere auch. Und kam mit den drei Bulgaren ins Gespräch. Ein bisschen Bulgarisch konnte er noch, so weit war dieses Land nicht entfernt von Griechenland. Und am nächsten Tag kam er wieder, und wieder unterhielten sie sich, Ramon, Vasco, Ivan und Christos. Und am dritten oder vierten Tag sagte Ivan plötzlich: »Du kannst jederzeit bei mir vorbeikommen! Das war der Moment, da passierte etwas. Ich verspürte einen kleinen Stich im Herzen und dachte nur: Was für ein Mensch!« Hat kein Haus mehr, in das er einladen kann, kein Glas Wein mehr, das er anbieten kann, der hat eigentlich gar nichts mehr außer sich selbst. Rossmann duldete die Wohnungslosen vor seiner Tür. Die Verkäuferinnen waren freundlich zu ihnen. Aber eine Nachbarin von gegenüber rief jeden Tag die Polizei und schimpfte: »Die müssen da weg! Die müssen da sofort weg!« So oft, bis die Bulgaren zum Viktoria Luise Platz zogen. Aber auch dort wurden sie vertrieben, und nach einem Monat waren sie wieder zurück bei Rossmann. »Der Rossmann hat ein Herz!«, sagen sie. Auch in der Passions-Kirche hatte man ein Herz und öffnete in den eiskalten Nächten des vergangenen Winters für zwei Wochen die Tür, »von abends um sechs bis morgens um acht. Die Kirche hilft auch ein bisschen, und der Staat auch. Aber das reicht nicht«, sagt Christos. »Ivan ist ein großartiger Mensch. Ich verbringe den halben Tag mit ihm, seit Ramon gestorben ist. Der war nicht mal 60! Plötzlich tat ihm der Bauch weh«. Und Vasco ist jetzt auch nicht mehr da, er ist »zurück nach Bulgarien. Der war jeden Tag arbeiten, hat immer nur geschuftet und immer auf der Straße geschlafen. Aber seiner Mutter hat er jeden Monat Geld nachhause geschickt«. Sechs Jahre lang. Irgendwann hatte er genug gespart, um zurückzugehen. Vasco ist 52, vielleicht kann er noch irgendein Geschäft aufbauen zuhause, von dem er leben kann. Und da war Ivan plötzlich alleine vor Rossmann. Jeden Sonntag ist er eingeladen, bei Christos, in der Friesenstraße, zum Baden und zum Essen. Eines Tages sagte Celine, Christos Frau: »Bring ihn mal mit, Deinen Ivan.« Auch ihr war der Mann sympathisch, jeden Monat gibt sie ihm 50 Euro vom Lohn ab. Es ist kein leicht verdientes Geld, das sie ihm gibt, seit Jahren arbeitet sie nun schon in dem Seniorenheim. »Und alle dort lieben sie! Alle, alle! Immer rufen sie nach Celine, Celine…«. Christos ist stolz auf seine Celine. Kürzlich haben sie zusammen Geburtstag gefeiert, im Raucherzimmer des Felix Austria. Es war ein Fest! Ivan war auch dabei. Und Freunde, viele. Jetzt ist er also tatsächlich 70 Jahre alt, und er liebt seine Celine noch genau so leidenschaftlich wie damals, 1998, als sie sich auf dem Bergmannstraßenfest neben ihn setzte. »Wir waren zusammen unterwegs bis morgens um sechs, aber ich habe sie nicht berührt. Nicht einmal ein Abschiedskuss. Doch sie wohnte nur ein paar Häuser weiter, und irgendwann stand sie vor meiner Tür!« Christos verdreht auch 22 Jahre später noch die Augen und wirft die Arme in den Himmel: »Mein Gott, was für ein wunderbarer Moment. Diese schöne, junge Frau … .« Dass Christos seinem historischen Namensvetter alle Ehre macht, ist kein Zufall. Er musste so werden. Schon seine Mutter hatte gesagt: »Du hast goldene Hände. Du musst etwas abgeben.« Christos hatte immer gutes Geld verdient in dem griechischen Bergdorf, nicht weit von der albanischen Grenze. Neun Kinder hatte die Frau groß gezogen, und ihr Christos wurde besonders groß. Er war beliebt in der Fußballmannschaft, spielte in der »3. Liga! Auf der Position von Beckenbauer!« Aber auch als Chef war er beliebt, weil er die Arbeiter gut bezahlte, weil er jeden Morgen Frühstück mitbrachte: »Brot, Käse, Fleisch, Wein, Obst.« Noch immer erzählen die großen Hände vom beißenden Zement, von den kantigen Steinen und krummen Nägeln. Christos packte mit an, stand nie daneben. Auch in Berlin hat er geschuftet »Akkord, Rigips, 16 Jahre lang.« Aber irgendwann wurde er müde. Wie Ivan. Ivan ist noch jung, 56 Jahre alt. Vielleicht wird er eines Tages zurückgehen. Aber vielleicht wird er auch bleiben. Er hat inzwischen Freunde hier, Christos und Celine, und Ulli, der auch fast täglich vorbeikommt. Oder Hannelore, die Frau des Malers. Und Rossmann natürlich. Und die Händler von der Markthalle. Wer weiß, wer noch so alles vorbeikommt und Halt macht beim ihm. Früher, erzählt Christos, sei er noch regelmäßig in die Kirche gegangen, jede Woche, zur griechischen Gemeinde nach Steglitz. »Ich glaube ein bisschen, aber nicht viel!«, sagt er. Christos glaubt eher an die Menschen. »An Menschlichkeit.« Deshalb haben Christos und Celine auch beschlossen, Ivan in diesen Winter zu sich zu holen. Der letzte Winter war sehr kalt, und sie haben eine große Wohnung, »drei Zimmer, aber eigentlich nutzen wir nur zwei, Küche und Balkonzimmer. Die halbe Wohnung steht leer!« • |