Kreuzberger Chronik
Dez. 2021/ 2022 - Ausgabe 235

Kanzlei Hilfreich

Hilfreichs letzter Fall


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von Kajo Frings

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Jens Hilfreich hat lange genug seinen Mitmenschen mit Rat zur Seite gestanden. Nun zieht er sich zurück. Ein wenig wenigstens.


Im Mai hatte sich ein Freund bei Jens Hilfreich über eine Mitarbeiterin auf dem Postamt Bergmannstraße beschwert. Nun stand schon wieder ein Mandant vor ihm, extrem schlecht gelaunt. Er hatte seit vielen Jahren in einem Café in der Nähe gefrühstückt, nun aber war es damit vorbei. Der Grund: Es gab keine Impfkontrolle. Er hatte die blondgefärbte Bedienung darauf angesprochen, aber die log mit unverschämter Dreistigkeit: »Wir lassen uns von jedem Gast am Eingang den Impfausweis zeigen«. Taten sie natürlich nicht. Das hätte Warteschlangen gegeben, außerdem fehlte es dem überfüllten sowieso Café an Personal, um auch noch jeden Gast um Impfausweis und Eintrag in die Anwesenheitsliste zu bitten. Oder anders gesagt: Umsatz und Gewinn gingen vor Gesundheitsfürsorge. Auf Gesundheits- oder Ordnungsamt zu vertrauen, hatte sich der langjährige Stammgast längst abgewöhnt. Das einzige, was ihm hilfreich schien, war der letzte Gang zu Jens Hilfreich.

Doch Jens Hilfreich konnte oder wollte ihm nicht helfen. Jens Hilfreich ging in Pension. Der Mandant wurde ungehalten: »Unserem Notarsfreund haben Sie doch geraten, er solle das Verhalten der Mitarbeiterin im Postamt Bergmannstraße öffentlich machen. Kaum ist das geschehen, wird nur sieben Monate später zum 31. Dezember das Postamt geschlossen.« Jens Hilfreich wies freundlich darauf hin, dass der Vorstand der Deutschen Bank wohl nicht wegen eines Artikels in einem Provinzblatt ein Postamt schließen lasse. Außerdem würden sehr viele Postämter in Berlin geschlossen, nicht nur in Kreuzberg, und diese Entscheidung war schon Ende letzten Jahres getroffen worden.

Nein, Jens Hilfreich sah sich nicht mehr als Retter für jeden und alles. Jetzt nahm er sich die Freiheit, Nein zu sagen. Aber es gab Ausnahmen. So wie nach einem Abend im Valentin am Südstern. Vorsorglich war er mit dem Taxi nach Hause gefahren. Das Taxi hielt, er stieg aus, wollte bezahlen, aber das Portemonnaie war weg. Zum Glück war in der Jackentasche noch ein Zwanni. Am anderen Morgen erhielt er einen Anruf: Eine Nachbarin hatte frühmorgens auf der Fahrradfahrt zur Arbeit das Portemonnaie auf der Straße gefunden und war bereit, es ihm am Nachmittag vorbeizubringen. Jens Hilfreich war ihr dankbar. Sein Angebot, ihr einen großzügigen Finderlohn zu zahlen, lehnte sie ab. Nicht, dass sie einen Finderlohn generell abgelehnt hätte, sie wollte nur kein Geld. Sie hätte sowieso vorgehabt, in seine Kanzlei zu kommen, und vielleicht könne er ihr - sozusagen als Finderlohn - ihre Fragen zu einem Erbrechtsfall beantworten. Was er dann gerne tat.

Er hofft aber sehr, dass er demnächst im Kleinen Weinstock oder vor der Marheinekehalle in Ruhe seinen Wein trinken kann, ohne dass sich Schlangen bilden, um einen Rechtsrat zu ergattern. Aber andererseits würde es ihn doch auch irgendwie freuen. •


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