April 2021 - Ausgabe 228
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Kreuzberger Fragmente (2) Autor unbekannt |
Man führte ihn nicht in die Baracke zurück, sondern in den Hof, ein paar Schritte auf jenes Tor zu, das in die Freiheit führte. Doch dann öffnete sich eine andere Tür, Stufen führten ins Dunkel hinunter, und da standen sie, im Keller, - all jene, von denen die andern geglaubt hatten, sie seien längst wieder zu Hause. Sie standen. Es gab keinen Platz zum Sitzen. Sie standen und die Füße schwollen an. Sie traten von einem Bein aufs andere, verlagerten das Gewicht wieder auf den anderen Fuß, in der Hoffnung, der Schmerz habe nachgelassen. Acht Tage lang stand er da. Die längsten acht Tage seines Lebens. Irgendwann im Februar Fünfundvierzig. Eines Morgens öffnete sich auch diese Tür. Man brachte die Männer ins Lager nach Schwiebus. Als sie in den Hof einfuhren, sah Hermann, wie man leblose Körper in eine Grube warf. Einer dieser Körper bewegte sich. Als er versuchte, aus der Grube zu kriechen, fiel ein Schuss. Sie blieben nicht lange in Schwiebus. Noch im Februar begann die große Reise. Vierzehn Tage im Waggon, ohne Wasser, achtundvierzig Mann, es wurde immer kälter, sie überquerten den Ural. Hermann redet nicht viel. Auch wenn er die Kunden schon lange kennt. Schweigend sucht er nach einem Schuh, zwischen den braunen und schwarzen, den einzelnen und den doppelten. Manchmal findet er sie nicht gleich. Aber die, die zu ihm kommen, haben Zeit. »Na, macht ja nix, dann komm ich halt noch mal. Von alleene kann der Schuh ja hier nich rausgehen!« - Hermann lächelt. Er lächelt oft. Er weiß schon. Seine Kunden genießen es, für fünf Minuten zurück in jener guten alten Zeit zu sein, als sich die Uhren noch langsamer drehten. Herr Hermann genießt die Langsamkeit. Weil sich das Rad der Geschichte manchmal rasend schnell drehte, einen mal hier, mal dort hin warf. Wie zufällig entschied man über ein Leben. Den einen ließ es, den andern verstieß es. Und es dreht es sich noch, das Karussell seiner Geschichte. Aber ab und zu bleibt es hängen, immer an den gleichen Stellen. Auch nach fünfzig Jahren noch - als zählten die Tage, die danach kamen, nicht. Als hätten sie kein Gewicht. Doch was wog denn so schwer wie jenes federleichte, vierzehnjährige Mädchen, das der Fünfzehnjährige im Lager zu Grabe trug? Freiwillig, auf seiner Schulter, bis an den Rand der Grube. Für eine Extraportion Suppe. Freiwillig! Nur um nicht zu verhungern. Und wie soll man sie nicht vergessen, die Treppenstufen, die man nicht mehr schaffte, weil die Beine längst zu schwach waren. Diese 15 Zentimeter hohen Stufen, die man auf allen Vieren hinaufkroch, zwei Stück Holz für den Ofen vor sich herschiebend, denn es war Winter, und es war kalt hinter dem Ural. Noch immer blendet dieser unschuldige, weiße Schnee Sibiriens, gefrorenes Wasser für all die Männer und Frauen mit den aufgerissenen Lippen, die nicht einmal mehr genügend Speichel hatten, um das trockene tägliche Brot zu kauen. Ein Tierarzt war unter ihnen, der sie warnte vor den Gefahren des gefrorenen Wassers. Er selbst war der erste, der schwach wurde und vom Schnee aß. Und an der Ruhr starb. Diesen Schnee vergißt man nicht, der blendet noch immer, selbst in der lichtscheuen Schusterwerkstatt. Oder den Blick jener Frau, die eines Tages diesen fünfzehnjährigen Knaben mit den spindeldürren Beinen sah, mit den eingefallenen Wangenknochen, der leeren Grube an jener Stelle, wo der Magen hätte sein sollen. Diesen Blick jener Frau, die nun täglich etwas abgab von der spärlichen Ration Brot und der täglichen Sardinenbüchse warmer Suppe, mit der sie ihm das Leben rettete. »Vergessen?« sagt er, »Das vergessen?«, zupft an einem Schuhbändel und lacht leise. Die Vergangenheit ist ein Bumerang, die holt einen immer wieder ein. Erst wenige Wochen ist es her, da erhielt er Post vom Roten Kreuz. Ein Schreiben, auf das er vierundfünfzig Jahre wartete: Die Todesurkunde des Vaters. Er verstarb, so die Mitteilung, am 7. November 1945 in Rußland. Einmal hatte er ihn noch gesehen, in einem der russischen Gefangenenlager, als Zwangsarbeiter in einer Knopffabrik. Sein Vater, mit dem der kleine Hermann wenige Monate zuvor die Einsegnungsschuhe ausgesucht hatte, Schuhe für den Tag seiner Konfirmation. Er erinnert sich noch, wie der Vater mit dem Schuster zu tuscheln begann, und wie er zu Hause plötzlich den Sohn fragte, ob er nicht beim Schuster in die Lehre gehen wolle. Wenn die ganzen Invaliden aus dem Krieg heimkämen, dann könne man mit orthopädischen Schuhen gutes Geld verdienen. Der junge Hermann hatte eigentlich zur Bahn gewollt. Aber dort nahm man nur noch Mädchen. Was sollten die Jungen noch eine Lehre anfangen - mit sechzehn würden sie eh in den Krieg ziehen müssen. Also fing er beim Schuster an. Aber nicht lang. Denn man kann sich das Leben nicht aussuchen. Heute nicht und damals erst recht nicht. Das kam und nahm einen einfach mit. Neun Monate war Hermann in Sibirien. Eine Ewigkeit. Obwohl andere viele Jahre blieben, manche für immer. Hermann ist einer der ersten Heimkehrer. Eines Tages steht er wieder an der Oder, in Frankfurt, auf dem Bahnhof, im November. Bei ihm ein alter Schulkamerad, den er beim Abtransport im Waggon wiedergetroffen hat. Was für ein Moment, als sie sich wiedersahen: Sie lebten noch! Sie schliefen auf dem Bahnhof, es »war ja Winter, war ja kalt!« Zuhause war niemand mehr. «Vielleicht weiß Mariechen, wo die alle sind!«, sagte der Freund, und so machten sie sich auf den Weg nach Nudow, zu Mariechen, der Schwester des Freundes. Marschierten einen ganzen Tag und erreichten am Abend das Dorf. Und Mariechen wußte wirklich, wo Hermanns Mutter war: Im Wald. Sie hatte sie erst kürzlich gesehen, beim Heidelbeerpflücken. Aber seine Tante sei noch da, in Friedberg. Dort könne er doch erst einmal hin. Am nächsten Morgen läuft er wieder los, die ganzen dreißig Kilometer bis nach Berlin. Mit dem einen Lederschuh, der noch geblieben war, und einem Holzschuh, den er unterwegs gefunden hatte. Ein Heimkehrer auf der Autobahn, die zum Sieg hatte führen sollen. Als ein amerikanischer Schlagbaum vor ihm auftaucht, flüchtete er in den Wald, stolperte durchs Unterholz und erreicht doch am selben Abend noch die S-Bahnstation in Berlin. Er muß geflogen sein, vielleicht dreißig Kilogramm leicht war er jetzt, der Hermann, fünfzehn Jahre alt. Dann endlich sitzt er in der Bahn, erschöpft und glücklich. Er hat es fast geschafft, nur noch ein paar Stationen bis zur Tante. (Fortsetzung und Schluss im nächsten Heft) |