April 2021 - Ausgabe 228
Geschichten & Geschichte
O ewich ist so lanck! (0): Der Geschichte 17. Teil: Leonard Drory von Eckhard Siepmann |
Friedhöfe, die Gärten der Entschlafenen, haben keine Gaslaternen. Es bleibt dem Mond vorbehalten, bei klarem Himmel die bemosten Grabsteine, verwitterten Kreuze und verlassenen Wege zu bescheinen. Im lyrischen Licht des Erdtrabanten werden auf dem Friedhof II der Jerusalems- und Neuen Kirche vor dem Halleschen Tor die goldenen Buchstaben auf acht schwarzen Eisenplatten lesbar, die das Erbbegräbnis der Familie Drory zieren, jener Verwandtschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Segnungen des Gaslichts Berlin und weiten Teilen Europas nicht nur unternehmerisch zugänglich machte. Das 18. Jahrhundert hatte die Straßen und Gassen noch mit Öllaternen beleuchtet, deren trübes Licht die Dunkelheit eher fühlbar machte, als dass sie sie erhellte. Nachtwächter schlurften nach wie vor durch die Gegend und riefen die Stunde aus: »Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen unsre Glock hat zwölf geschlagen! Zwölf, das ist das Ziel der Zeit Mensch, bedenk die Ewigkeit!« Dann kam die Gasrevolution. In England waren bereits 1813 zur Freude nächtlicher Spaziergänger die ersten Gaslaternen aufgestellt worden. Die 1824 gegründete Firma mit dem stolzen Namen Imperial Continental Gas Association erreichte im 19. Jahrhundert geradezu Weltruhm, denn sie sorgte für die Straßenbeleuchtung in den schnell wachsenden Metropolen des europäischen Kontinents. Der englische Ingenieur Leonard Drory, geboren 1800 in der Grafschaft Essex, und seine Söhne waren dabei überall leitend im Spiel. Anfang 1825 hatte die Gas Association ihre Niederlassung in Berlin gegründet. Nach erfolgreichen Verhandlungen mit dem Magistrat fiel ihr der Zuschlag für die neue Gasbeleuchtung der preußischen Hauptstadt zu. Ende 1826 flammten dann die ersten noch flackernden Gaslaternen in der Stadt an der Spree auf. Ihr Licht verdrängte die trüben Tranfunzeln der Aufklärungszeit und rief auch an der Spree eine vielgestaltige Industrie hervor, denn das erleuchtende Gas musste produziert, gespeichert und verteilt werden, Rohrleitungen mussten verlegt und Laternen aufgestellt werden. 1837 wurde der pendelnde Engländer zum Wahlberliner und bezog eine Wohnung in der Gitschiner Straße 9, gleich neben dem damaligen Gaswerk und dem heutigen Prinzenbad. Drory führte eine bewegte Ehe mit Elizabeth »Betsy« Skinner und zeugte 17 Kinder, allesamt begeisterte Wassersportler. Vater Drory besaß mehrere Segelboote, darunter den Zweimaster Pirat. Sohn Edward gründete 1867 in Stralau am Rummelsburger See den Berliner Segler-Club und amüsierte sich auf einem Segelboot namens Nirvana. 1860 quittierte Drory den Dienst, allerdings nicht ohne seinen Sohn Edward George zu seinem Nachfolger zu küren. Sechs Jahre blieben ihm noch, um stolz bei Tag und sinnend in der erleuchteten Nacht auf sein Werk und seine erfolgreichen Söhne zu blicken. Dann kam die Cholera. Sie breitete sich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in ganz Europa aus und suchte 1866 auch die Stadt an der Spree heim. Besonders betroffen war die Tempelhofer Vorstadt südlich der träge dahinfließenden und mit Fäkalien angereicherten Wasser des Kanals, die nur wenige Schritte vom Domizil der Drorys entfernt vorüberflossen, und die schon bald als eine der möglichen Ursachen für die rasche Ausbreitung der Krankheit galten. Vor allem wurden aber die allgemeinen Hygienebedingungen in der Stadt für den Siegeszug der Cholera verantwortlich gemacht. In einem zeitgenössischen Bericht über ein Haus in der Tempelhofer Vorstadt heißt es, es verfüge über »keine Einrichtung zur Wasserleitung und keine Closets, sondern nur eine gewöhnliche Abtrittsgrube, von welcher 16—20 Fuß entfernt der Brunnen liegt, der ein sehr schlechtes, übel riechendes Trinkwasser liefert. Die Entwässerung geschieht durch eine Senkgrube. Sechsundzwanzig Miether aus dem Arbeiterstande halten das Haus sehr unsauber. Auch der Abtritt ist unsauber und wird selten gereinigt.« 17 Jahre nach dem Ausbruch der Cholera entdeckte der Berliner Starmediziner Robert Koch endlich das fieberhaft gesuchte Bakterium Vibrio cholerae im Darm der Cholera-Opfer. Für Drory kam diese Entdeckung zu spät. Über 8000 Menschen waren seinerzeit an der Cholera erkrankt, 5457 von ihnen starben, unter ihnen auch der englische Einwanderer aus dem Haus in der Gitschiner Straße, in dem es weder an einer Toilette noch an sauberem Trinkwasser gemangelt haben dürfte. Es wurde gemunkelt, die Frau eines an Cholera erkrankten Arbeiters habe ihm ein Schreiben überreicht, das dem alten Leonard zum Verhängnis geworden sei. Der Begräbniszug hatte es nicht weit: Leonard Drorys Leichnam wurde am Halleschen Tor der Erde übergeben. Manchmal, in dunkler Nacht, flackert noch heute ein kleines Licht auf seinem Grab - es kommt von einer Solarlaterne mit Flackereffekt. • |