Kreuzberger Chronik
September 2020 - Ausgabe 222

Strassen, Häuser, Höfe

Der Ziegeleiweg oder Frau Hegel in den Zeiten der Cholera


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von Werner von Westhafen

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Im Oktober des Jahres 1831 packt Marie Hegel, geborene von Tucher, die Koffer, um zurück zum Kupfergraben zu ziehen. Sie hat den Sommer mit ihrem Mann am Kreuzberg verbracht. Dort hat die Familie ihr so genanntes »Schlösschen«, ein Sommerhaus auf dem Anwesen des Gärtners Grunow, nicht weit vom Ziegeleiweg, der zu jener Lehmgrube führte, die bereits die Steine für das berühmte Graue Kloster der Franziskaner geliefert hatte. Später, als man zur Erinnerung an die Kriege gegen Napoleon auf dem Kreuzberg ein Monument errichtet, wird der lehmige Weg zur Monumentenstraße.

Die Vermutung in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, Hegel habe sich »von der asiatischen Hydra ins Bockshorn jagen lassen« und sei aus Angst vor der Cholera aus der Stadt an den Kreuzberg geflüchtet, um sich in »einem eigens gemietheten kleinen Hause, das er mit einer Mauer umgeben, völlig zu isolieren«, ist falsch. Die Familie hat sich bereits ein Jahr zuvor bei Grunow eingemietet, die Mauer umfriedete die Gärtnerei schon seit Jahren.

Wieder zurück am Kupfergraben findet Marie Hegel Zeit, einen Brief an ihre Mutter zu verfassen. Am 7. November schreibt sie: »Wir genießen die guten Folgen unseres Landaufenthaltes« und das ruhige Leben im noch ländlichen Kreuzberg: »Spazieren gehen, zeitig schlafen gehen, kein Gehetz. (...) Hegel rühmt vor allem die schöne reine gesunde Luft dort außen u. meinte in den ersten Tagen in der Stadt, es sey ihm wie einem Fisch, den man vom Quellwasser in Faulwasser versetze.« Aber »inzwischen meint er, wir befinden uns doch so wohl wie ein Fisch im gesunden Wasser. Es ist uns in unseren schönen u. eleganten Zimmern bei größerer Ordnung u. Bequemlichkeit wieder recht behaglich. Ich betrachte meine schönen Bilder (...) u. freue mich wie ein Kind über die größere Ordnung und Räumlichkeit.« Nur das Wetter ist ungemütlich, »bis zum Tage wo wir herein gezogen sind, war es unvergleichlich schön«, nun ist es »rauh u. herbstlich naßkalt.«

Marie ist zwanzig Jahre jünger als der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel und eine lebensfrohe Natur, die am gesellschaftlichen Leben auf allen Ebenen teilnimmt. Die Quarantäne- und Hygienemaßnahmen behagen ihr nicht, und sie ärgert sich darüber, dass Madame Grunow, die Frau des Gärtners, »mit dem schönsten Kopfsalat« vom Markt zurückkommt, »ohne für einen Groschen verkauft zu haben.« Nur weil die Doktoren vor dem Verzehr von Obst und Gemüse gewarnt haben. Die Berliner, schreibt sie, seien »ganz besonders ängstlich«.

Anfangs nehmen diese Berliner die Krankheit nicht ernst. Als es Vorschrift wird, beim Transport von Cholera-Toten mit lautem Klingeln die Passanten zu warnen, antworten die: »Nur nich jraulich machen«. Und vertrauen auf die desinfizierende Wirkung des Branntweins. Es wird fröhlich weitergefeiert, nur der König hat sich im Schloss verschanzt. Als aber immer mehr in schwarzes Leder gekleidete Sanitätspolizei in den Straßen auftaucht, wird es still, und Ende Oktober weht, wie ein Historiker schreibt, »ein widerlicher Geruch durch die Gassen, verursacht vom übermäßigen Gebrauch von Desinfectionsmitteln.«

Marie steht all diesen Maßnahmen skeptisch gegenüber, vor allem, weil sie widersprüchlich sind. Sie beklagt im Brief an die Mutter den »unnötigen Kostenaufwand. Wozu Spitale einrichten u. Ärzte hinschicken u. der Unannehmlichkeit u. Gefahr preisgeben«, wenn doch die Stadt hermetisch abgeriegelt ist. Leider habe man vergessen, »den Finow-Kanal zu schließen. Später mussten die Schiffe Quarantäne halten, die Schiffer aber durften nach der Stadt. Wollte ich Dir ein Gemälde machen von der Inconsequenz, diesen Mißgriffen, diesen halben Maßregeln, diesem Zwiespalt der Meinungen u. Ansichten – man weiß selbst nicht, was man davon denken und halten soll.«

Doch eine Woche, nachdem Marie ihrer Mutter von den glücklichen Tagen am Kreuzberg und der Rückkehr in die Stadt geschrieben hat, ist Hegel tot. Ganz plötzlich, nach nur zwei Tagen, sei er »leicht, schmerzensfrei, sanft und selig (...) hinübergeschlummert.«

An die Mutter schreibt sie am 22. November, sie brauche sich nicht zu sorgen: »Ich bin keiner Gefahr preisgegeben, unsere Wohnung ist heiter u. gesund, wir haben kein Wasser im Keller, u. haben wir es, so hat es die halbe Stadt. Noch ist keiner am Kupfergraben an der Cholera gestorben, u. der Einzige«, der daran gestorben sein soll, habe sie »auch nicht gehabt. Eine intensife Cholera heißen sie es jetzt, eine Cholera ohne alle äußere Symptome! Wäre die Cholera nicht in Berlin, würde es Stickfluß oder Gott weiß was heißen.«

Marie Hegel zweifelt: »Wäre Ansteckung, so hätte ich, die ich ihn 2 Tage u. eine Nacht gepflegt, sie wohl von seinen Lippen geküßt. Aber die klugen Herrn haben alles, denn es will das Gesetz, desinficirt, meine Betten fortgeschleppt, nichts was im Zimmer war heraus gegeben, aber keinem von den drei Herrn ist eingefallen zu sagen: Liebe Frau waschen Sie sich, ziehen Sie andere Wäsche an! Daran hat keiner gedacht, weil keiner im Grunde seines Herzens an Ansteckung glaubt« , weil sie »selbst nicht recht wissen, wie sie daran sind.«

Hegel gilt als das prominenteste Choleraopfer jener Tage. Doch schon damals wurden Zweifel an der Todesursache laut. Der Philosoph hatte sich das Gartenhaus im Grünen nicht zufällig ausgesucht, sondern weil er seit Jahren schwächelte. Er wurde auch nicht wie gewöhnliche Choleraopfer namenlos und ohne die Begleitung von Angehörigen in einem ungeweihten Massengrab verscharrt, – eine Praxis, die zu landesweiten Protesten und Tumulten führte – sondern in allen Ehren auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Grabe getragen. Und fand seine letzte Ruhe neben zwei alten Freunden. •

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