Kreuzberger Chronik
Oktober 2020 - Ausgabe 223

Kreuzberger
Robyn Schulkowsky

Dissonanz macht produktiv!


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von Reiner Schweinfurth

Titelfoto: WoWe

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Es begann damit, dass sie in München das Haus abrissen, in dem sie wohnte und arbeitete. »Ich war gewissermaßen obdachlos!« Ungefähr gleichzeitig rissen sie auch in Berlin gerade die Mauer ein, was die Stadt plötzlich zum internationalen musikalischen Hotspot machte. Und weil Robyn Schulkowsky als Musikerin nun immer öfter in Berlin zu tun hatte, suchte sie sich eine Bleibe in der Lehrter Straße. Berlin war eine spannende Stadt, tagelang durchstreifte sie die Straßen, bis sie an einem Laternenpfahl in der Kreuzbergstraße auf einen handgeschriebenen Zettel stieß: »Lagerhalle zu vermieten«. Sie notierte sich die Nummer, rief an und erhielt einen Mietvertrag. »Das war wie ein Wunder, weil ich in nächster Nähe gleich auch noch eine Wohnung fand. Heute bin ich in fünf Minuten im Studio!«

Robyn Schulkowsky sitzt in ihrem Garten an der Methfesselstraße, eine uralte Eiche spendet Schatten. Der Blick geht hoch zur Sixtus-Villa, von der so gern erzählt wird, hier habe Georg Friedrich Hegel seinen letzten Sommer verbracht, bevor er am 14. November 1831 am Kupfergraben an der Cholera verschied. Allerdings wurde die Villa erst 1891 erbaut.

»Kreuzberg ist ein guter Ort«, sagt Robyn Schulkowsky. »Ich kann alles mit dem Rad oder zu Fuß erledigen, auch wenn mir die alte Markthalle besser gefallen hat. Der Haushaltswarenstand fehlt, und Leisten-Schlumm in der Bergmannstraße. Aber sonst ist eigentlich alles noch da.«

In der ehemaligen Lagerhalle in der Kreuzbergstraße drängen sich jetzt Trommeln, Becken, Schlagringe, Pauken und Marimbas dicht aneinander, - ein ganzes Arsenal von Instrumenten, Gegenständen, Requisiten, die sich in Schwingung versetzen lassen. Robyn streicht mit den Fingerspitzen über die verschiedenen Oberflächen, gibt den Klangkörpern einen Klaps, schimpft und spricht mit ihnen, um sich anschließend für die Heftigkeit zu entschuldigen. Wozu eigentlich braucht der Mensch noch Trompeten, Flügel, Geigen?

Geräusch? Klang? Rhythmus? Musik? Robyn Schulkowsky geht weiter. »Schlaginstrumente haben wahrscheinlich das größte Spektrum an akustischen Ausdrucksmöglichkeiten«, sagt sie. »Es gibt einfach keine Grenzen!« Wenn sie auftritt, entsteht jedes Mal etwas Neues. Permanente Improvisation. »Es geht darum, einen Raum zu öffnen, sein Klima zu verstehen, die Wege zu finden, die von den Materialien ausgehen, die ich zum Schwingen bringe. Ein Aspekt meiner Arbeit ist die Erforschung einer Realität, die wir vielleicht vergessen haben, die wir aber sofort verstehen, wenn wir sie hören.«

Foto: Horst Munzig
Robyn Schulkowsky ist Musikwissenschaftlerin, Komponistin, praktische Philosophin, Handwerkerin, Lehrerin, Performerin. Nach wenigen Minuten des Zuhörens wird das Gehirn neu koordiniert. Rechte und linke Hälfte - die Phantasie: rechts, und der Kontrollfreak: links - balgen sich nicht mehr. Sie vertragen sich plötzlich und geraten in jenen ominösen Flow, der Zuhörer glücklich machen kann. Das hängt davon ab, wie unbefangen die Zuhörer sind. In der Regel gelingt es der Musikerin, das Publikum dorthin zu führen, wo es vorher noch nicht war. Diese Fähigkeit, zu führen und gleichzeitig freizulassen, brachte sie mit berühmten Künstlern zusammen und machte sie am Ende selbst zu einer Koryphäe der Neuen Musik.

Eureka, South Dakota. Eine Landschaft ohne Haltepunkte, eine rollende Weite, keine Bäume, irgendwo am Horizont der Missouri-River. Kaum 1000 Einwohner. Nicht viel los in den 50er- und 60er-Jahren, aber es gibt eine gute Schule und eine Großmutter, die für die lokale Bücherei zuständig ist und Robyns Neugier mit Musik und Literatur füttert. Sie hört lokales Radio, Pop-Musik der Epoche. Alles irgendwie normal, doch dann entdeckt sie das Schlagwerk in der gut ausgestatteten Schule, besonders die Pauke. »Unter der Woche hatte ich das Musikzimmer zwischen fünf und sieben am Abend für mich allein. Es gab keine Noten für Schlagzeug, also untersuchte ich Zeit und Klang auf eigene Faust. Ich hatte leider einen dämlichen Musiklehrer, der sich mit mir profilieren wollte, aber keine Ahnung von der Pauke hatte. So musste ich mir selbst helfen!« Und so kam es, dass sie als einziges Mädchen in der Marching-Band des örtlichen Football-Clubs spielte.

1971 haut sie ab - »Es ging nicht mehr!« – und schreibt sich an der Universität von Iowa ein. »Ich wusste nix!« Das änderte sich schnell. Sie ist die einzige Frau in den USA, die an einer Musikfakultät Percussion studiert, sie hört Edgar Varèse, Olivier Messiaen, macht ein ausgezeichnetes Examen und unterrichtet dann in Albuquerque. »Meine Ausbildung war sehr gut. Ich beschäftigte mich mit der Physik des Schalls, lernte Instrumente zu bauen und war ganz verknallt ins Lernen. Ich lernte wie verrückt, nur um am Ende festzustellen, dass ich noch ganz am Anfang stand. Was mich allerdings nicht entmutigte, sondern meine Neugierde nur noch größer machte. Das ist paradox, aber auch beruhigend. Lernen ist eben unendlich.«

Nach drei Jahren ist New Mexico Geschichte, sie wechselt den Kontinent, studiert weiter und begegnet jetzt der Musik von Jannis Xenakis, John Cage, Wolfgang Stockhausen, den Helden der Avantgarde. »Ich musste die treffen.« Und der beste Ort dafür war Anfang der Achtzigerjahre Köln mit seinen Studios des Westdeutschen Rundfunks. »Eine goldene Zeit, jede Menge Uraufführungen, Radio-Performances. Schlagzeuger waren gesucht.« Sie ist jetzt eine weltweit gefragte Künstlerin und eine begehrte Musikerin für Kompositionen, die nicht von der Stange kommen. Engagements in New York, London, Paris folgen. »Ich verstand die Partituren schnell, musste nicht so viele Fragen stellen. Was der Plan war, auf dem das Werk aufbaute, wie die Gebärden aussahen, die dabei entstanden – vieles war mir vertraut, bevor ich den Stoff analysierte.« John Cage ist ihr Liebling. »Wir mochten uns, bis er starb. Zu Stockhausen hatte ich ein schwieriges Verhältnis. Er meinte, dass Frauen immer zu schnell spielten. Quatsch!«

Foto: Regine Koerner
Ein Problem allerdings hat sie nach ihrer Umsiedlung trotzdem. »Ich konnte kein Deutsch. Alles, was ich tun konnte, war zuhören. Ich lernte den Kölner vom Münchner Dialekt unterscheiden, aber sprechen? Ging gar nicht!« Hilfe naht erst, als sich auch das Theater für Robyn Schulkowsky interessiert. »Der Regisseur Ernst Wendt engagierte mich für eine Shakespeare-Produktion an den Münchner Kammerspielen. Die Sprache war deutsch, was sonst. Wir haben jedes Wort umgedreht. Nach einem halben Jahr machte es ‚Plop!!‘ und ich konnte deutsch. Wendt hatte Geduld und ich wollte lernen. Passte!« Jetzt ist Deutsch so etwas wie ihre zweite Muttersprache.

Von der Neuen Musik auf die Bühne ist es nur ein kleiner Schritt. »Das Theater zog nach, wo Cage oder Mauricio Kagel schon angekommen waren. Auch hier fielen die Grenzen.« Robyn erweist sich als streitbare Partnerin, bringt neue Ansichten auf die Figuren in die Proben und siedelt nach München über. »Eine tolle Zeit. Ich hatte ein großes Atelier, konnte experimentieren ohne Kompromisse, die Stadt mochte mich. Wochenends spielte ich in einer Partyband Schlagzeug.«

1996 überreicht ihr der Opernintendant Wolfgang Sawallisch den Preis der Christoph und Stephan Kaske-Stiftung, die sich für zeitgenössische Musik und Komposition engagiert. Die Laudatio hält eine Freundin, die Schauspielerin Maria Wimmer. Ihr hatte Robyn die Ohren geöffnet für Klangschichtungen, Lautnuancen, für einen anderen Zugang zu Stücken, die ihr vorher fremd gewesen waren. Wimmer, eine der großen deutschen Charakterdarstellerinnen seit den 30er-Jahren, sagt über die erste Begegnung mit Robyn Schulkowsky: »Ich war wie benommen und sehr aufgeregt. Ich dachte: das ist es, damit will ich kämpfen, ihr folgen, mit ihr gemeinsam gehen.«

Robyn muss lächeln: »Wichtig ist wahrscheinlich, dass ich die Musik ungeteilt spiele. Es steckt keine Berechnung dahinter. Es ist, was es ist. Weniger ich, als die Klänge, die eher abgehört als gemacht sind.«

Foto: Katrin Schilling
Diese Besonderheit ihrer Musik bleibt auch den bildenden Künstlern nicht verborgen. »Wir brachten in den 80ern die Künste zusammen an Plätzen, die sich bis dahin für solche Übertragungen und Konfrontationen wenig interessiert hatten. Projekte gab es immer, aber damit ein Konzept zu verfolgen, war relativ neu.« Da wurden in der neuen Pinakothek in München plötzlich Ideen von John Cage umgesetzt. Morton Feldman fand statt. Interdisziplinär war noch kein Modebegriff für Kuratoren, eher die Beschreibung einer Suche, die auch mal ins Leere laufen konnte. Aber das störte damals niemanden, weil keine Ergebnisse produziert werden mussten. Der Weg, der Prozess war das Ziel. Mitte der 90er-Jahre geht die Percussionistin zur Schaubühne. Bei den Salzburger Festspielen lernt sie Edith Clever, die Drama-Queen vom Ku‘damm kennen. Die inszeniert mit ihr Medea, eine der klassischen Überfrauen. Die Musikerin rückt Mord, Wut und Verzweiflung in ein unerwartetes akustisches Ambiente. Der hohe Ton der Clever verfängt sich im Materialklang der Komponistin. Ein Erfolg für die Clever, die 1996 nach fast zehn Jahren Abwesenheit ein Comeback feierte. »Es war herrlich. Wir haben uns bis zur Grenze gestritten, aber nie darüber hinaus. Die Basis war nie gefährdet. Ich brauche das. Harmonie ist das Letzte, worum es mir geht. Dissonanz macht produktiv.« Das Stück bleibt mehrere Spielzeiten im Programm. Dann beauftragt sie Robert Wilson. Sasha Waltz arbeitet mit ihr.

Die amerikanische Musikerin ist in der ganzen Welt unterwegs, spielt in Ghana mit dem Trommler Ghanaba, der in den USA als Jazzdrummer Karriere macht, bevor er wieder in seine Heimat zurückkehrt. »Man kann sich in Afrika eine Trommelperformance nur mit Tanz vorstellen. Das ändert für den Musiker komplett die Perspektive«, sagt sie. Auch in China unterrichtet sie: »Die Gesellschaft bildet sich immer ab. In Peking ist es schwer bei einem Schüler, einen individuellen Ausdruck freizulegen.« In den 90ern geht sie mehrmals nach Sri Lanka, und in Hannover organisiert sie auf dem Gelände der EXPO 2000 eine Woche lang Trommelperformances. »Es war großartig. Ich konnte Musiker aus aller Welt einladen. Das Publikum war begeistert.«

Doch die letzten Monate waren schwierig. Die Epidemie macht ihr das Leben schwer. »Die Veranstalter haben Schiss, aber keine Ideen. Warum nicht einfach die Bestuhlung der Theater abbauen und einen freien Raum zur Verfügung stellen? Dann findet jeder den richtigen Abstand... Performances wären jetzt so wichtig. Stattdessen warten alle darauf, dass der alte Betrieb wieder aufgenommen wird.«

Über dem Garten am Kreuzberg steht die Augusthitze. Robyn Schulkowsky macht das wenig aus. Alle paar Minuten fällt ihr etwas Neues ein. Man könnte die Türen der Konzertsäle öffnen und von dort Musik hereinströmen lassen. Das Publikum warten lassen, was passiert. Die Verhältnisse umkehren. Das kann sie gut.

Stillhalten kann sich nicht. Sie trommelt weiter, im Oktober im Kollwitz-Museum, im November in der Akademie der Wissenschaften. Dann vielleicht mal wieder in New York, Paris, oder München... •

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