Oktober 2020 - Ausgabe 223
Reportagen, Gespräche, Interviews
Unser Dorf soll schöner werden von Horst Unsold |
Der Winter kommt. Harte Zeiten für die, die keine Wohnung haben. Das stört jene, die eine Wohnung haben, wenig. Die sorgen sich um die Sauberkeit. Die berühmteste illegale Kreuzberger Wohnstatt liegt an der ehemaligen Staatengrenze gleich hinter der St. Thomas Kirche. Osman Kalin bepflanzte den sandigen Mauerstreifen zunächst mit Bohnen, Tomaten und Kartoffeln und zum Schluss mit einer Bretterhütte. Natürlich bekam der Gärtner Ärger mit den westlichen ebenso wie mit den östlichen Behörden, als er auch noch einen Zaun um sein Grundstück zog, einen Ofen aufstellte und die Gartenhütte zu einem Bungalow ausbaute. Das Gecekondu, wie seine Landsleute diese Form heimlich errichteter Wohnanlagen bezeichnen, war in allen Zeitungen, Kalin verlangte Gage, wenn die Fernsehsender mit ihm sprechen oder ihn fotografieren wollten. Gecekondus, Favelas, Slums...., das sind die ärmlichen, in aller Eile zusammengezimmerten Notunterkünfte am Rand der Stadt. Einige dieser Siedlungen haben sich im Lauf der Zeit zu eigenständigen Wohnvierteln entwickelt, die heute in den Reiseführern stehen. Die Notunterkünfte des 21. Jahrhunderts sind weniger beständig. Das liegt ihn ihrer Natur, denn sie bestehen aus Wohnmobilen, Hausbooten, Bauwagen und, wie es im Neudeutschen heißt: Tiny-Houses. Anders als die Slums der 3. Welt ist die europäische Variante des Ausweichquartiers auch Form des Protests und Ausdruck einer Philosophie. Die Bauwagensiedlungen, die nach dem Fall der Mauer auf den letzten Brachen Kreuzbergs zu wahren Wagenburgen anwuchsen, in denen sich die Berliner gegen die anrückende Schar der Investoren zu verteidigen versuchten, waren Bastionen gegen den Kapitalismus und das bürgerliche Dasein. Sie waren und sind respektable Gegenentwürfe ebenso zum Leben in teuren Mietwohnungen und Eigenheimen als auch zum Schlafen unter Brücken und in Hauseingängen. In Deutschland wurde das alternative Wohnen in ausgedienten Zirkusanhängern hinter mit grüner Lackfarbe gestrichenen Traktoren in den Siebzigern zur Mode. Der bekannteste Vertreter aus dieser Zeit war Peter Lustig, der Gärtner aus der Sendung mit der Maus, der aus seinem Wagen heraus den Kindern die Welt erklärte und deutlich machte, dass man auch ohne Eigenheim glücklich sein konnte. Leider hat die heranwachsende Generation diese Lektion nicht richtig verstanden, zu den Lebensentwürfen der damals Zehnjährigen gehören neben dem gutbezahlten Job die Ehe und die Waschmaschine in der Eigentumswohnung. In Amerika gab es diese Ansätze zum Ausbruch aus dem bürgerlichen Wohnumfeld bereits früher. Legendär sind die Bilder der auf Anhänger montierten Bretterhütten, die durch Amerikas Weiten klapperten und nicht mehr Luxus aufwiesen als die Planwagen, mit denen ihre Vorfahren einst eingereist waren. In Deutschland tauchten die ersten fahrenden Holzhäuschen mit Geranien auf der Fensterbank in den Zwanzigerjahren auf. Abgelöst wurden sie vierzig Jahre später von eiförmigen Wohnwagen hinter dem eigenen Pkw mit Gardinen vor dem Fenster. Gedacht waren die mobilen Wohnstätten allerdings nicht für den grauen Alltag, sondern nur für den Urlaub. In Ermangelung bezahlbaren Wohnraumes jedoch machten die mobilen Immobilien, die laut Straßenverkehrsordnung alle paar Wochen einige Meter weiterziehen müssen, um ihre Verkehrstüchtigkeit zu beweisen, als Hauptwohnsitz Karriere. Sie gehören zu den letzten Unterschlupfmöglichkeiten in einer der letzten gesetzlichen Grauzonen. Und auch, wenn die einst aus Brettern zusammengezimmerten Unterkünfte längst von fertig ausgestatteten Wohnmobilen mit Einbauküche, Solaranlage und TV abgelöst wurden, führen auch deren Bewohner noch das Leben von Halbnomaden. In Kreuzberg hat sich auf dem letzten, noch unasphaltierten Stück der Lilientalstraße eine Wohnmobilburg zusammengefunden, bestehend aus etwa 20 fahrbaren Wohnzimmern in einer idyllischen Stadtlandschaft zwischen Schrebergärten und Tennisplätzen. Was zunächst ein kostenloser Stellplatz für Berlin-Touristen mit Wohnmobil war, wurde allmählich zur Wohnanlage. Nur, um dem Gesetz genüge zu tun, werden sie einmal im Jahr anlässlich einer Großveranstaltung auf dem nahegelegenen Friedhof verscheucht. Nach den Festlichkeiten dürfen sie wieder auf ihre Plätze zurück. Im Kreuzberger Rathaus weiß man, dass in einem alternativen Stadtteil, der in jedem Stadtführer auch als solcher verkauft wird, nur Stimmen zu machen sind, indem man die alternativen Lebensformen akzeptiert. Bundesarchiv, Nr183-1987-1002-510/CC-BY-SA 3.0
Kreuzberg, von seinen alternativen Einwohnern einst noch wertschätzend als Dorf bezeichnet, weil sich hier jeder kannte und weil man zusammenhielt, soll schöner werden. Da müssen die schlecht gekleideten Afrikaner aus den leerstehenden Schulen vertrieben werden, die Flüchtlinge aus ihren Zelten am Oranienplatz, die rastalockigen Haschischverkäufer aus den Parkanlagen, die Junkies von den Parkbänken am Marheinekeplatz und die Obdachlosen aus dem Böcklerpark. Es muss jetzt endlich einmal aufgeräumt werden. So traf es auch zwei Kreuzberger vom Mariannenplatz. Sven Lüdecke vom Verein Little Homes hatte ihnen zwei Tiny-Häuschen zur Verfügung gestellt, aber im April 2019, einen Tag vor dem Kreuzberger Maifest, rückte ein Bagger an und schob die alternativen Eigenheime zu einem Haufen Brennholz zusammen. Als gleich drei Hauptstadt-Zeitungen über den Abriss berichteten, taten die Stadtoberen, als hätten sie von nichts gewusst und suchten einen Verantwortlichen. Gefunden wurde er nicht. Keine Probleme hatte man im Rathaus dagegen mit dem Doppel-Tiny-Haus, das seit einiger Zeit am Südstern steht. Ganz im Gegenteil, hier ließ sich die politische Fraktion sogar mit den Bewohnern fotografieren. Allerdings ist das graublaue Holzhäuschen auf der einst grünen Wiese auch kein Wohnquartier, sondern das Hauptquartier der BürgerGenossenschaft Südstern e. V., die sich ein Ziel gesetzt hat: Unser Südstern soll schöner werden. Um die Sache voranzutreiben, treffen sie sich regelmäßig vor ihrem Wagen, um Kaffee zu trinken und mit den Anwohnern gemeinschaftlich Müll aus den ungepflegten Blumenrabatten zu pflücken. Eine Aufgabe, die eigentlich der Stadtreinigung zukommt und aus Steuergeldern finanziert werden müsste. Leider musste der Staat zuerst die Deutsche Bahn, die Lufthansa und verschiedene Automobilkonzerne sponsern. Doch da drücken die Genossen vom Südstern ein Auge zu. Auch im Gespräch mit Passanten zeigt sich der Verein allseits freundlich und kooperativ und erklärt gerne, dass man Bürgerbefragungen durchführe, sich um die Installierung neuer Fahrradständer kümmere und die Gestaltung der Grünflächen. Man ist sich einig, dass der Platz sauberer und grüner werden muss. Nur bei der Frage bezüglich zusätzlicher Bänke ist man uneins. Schließlich sind Bänke für alle da, und wozu würde man Blumen pflanzen und Müll sammeln, wenn dann noch mehr Stadtstreicher hier herumsäßen, noch mehr Alkoholiker ihre Notdurft zwischen den Beeten verrichten, leere Flaschen, Büchsen und Mülltüten auf den Bänken hinterlassen? »Wir möchten niemanden vertreiben«, sagt ein Vereinsmitglied, »und natürlich ist der Platz für alle da. Aber...« - letztendlich soll dieser Platz ja schöner werden. Und letztendlich ist der Anblick von Obdachlosen nicht schön. Natürlich sagt und schreibt das niemand, aber es meinen viele. Passanten und Kaffeetrinker. Kreuzberger und Bielefelder. Doch angesichts des hübschen Wagens im Hintergrund stellt sich die Frage: Warum nicht eine kostenlose öffentliche Toilette? War das nicht schon im 19. Jahrhundert eine äußerst erfolgreiche Idee? Im Nu war die Stadt sauber! Und was wäre schlimm daran, wenn in diesem hölzernen Wagen abends zwei Lichter angehen würden. Und wenn an einem dieser Wagen ein Briefkasten hängen würde? Einer der beiden Einwohner vom Mariannenplatz hatte, so schrieben es die Zeitungen, seinen Wagen sogar als Meldeadresse eintragen lassen und einen Arbeitsplatz gefunden. Er würde sich womöglich sogar um die Pflanzen vor seinem Häuschen am Südstern kümmern und sie gießen. So wie das einst schon Osman Kalin tat. Sein Bretterhäuschen (Vgl. Kreuzberger Chronik No. 71) ist inzwischen als Baumhaus an der Mauer weltberühmt. Ein Fernsehsender berichtete, es solle jetzt zu einem Museum ausgebaut werden. • |