Kreuzberger Chronik
November 2020 - Ausgabe 224

Kreuzberger
Gülcan Maksude Cerdik

In Berlin ist alles anders!


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von Ina Winkler

Titelfoto: Holger Groß

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Egentlich sollte sie nicht Schauspielerin werden. Eigentlich sollte sie ihren türkischen Landsfrauen und Landsmännern Girokonten, Kredite und Sparverträge verkaufen. Für die Postbank in München, wo sie ihre Ausbildung als Bankkauffrau machen sollte. Das Verkaufen gelang ihr ganz gut, für jeden Vertrag gab es fünf Punkte, und meistens erreichte sie die fünfzig Punkte, die man in der Woche zusammenbringen musste, damit der Filialleiter nicht wieder vor einem stand, den Kopf auf die Seite legte wie ein freundlicher Kinderarzt und sagte: »Na, wie gehts uns denn so?« Als wäre etwas nicht in Ordnung mit einem, wenn man in einer Woche mal keine zehn Verträge abgeschlossen hatte.

In der Regel schaffte Gülcan die fünfzig Punkte, aber dann sah sie irgendwann »GZSZ« - so nennen Insider aus der Schauspielbranche eine der erfolgreichsten Vorabendserien des deutschen Fernsehens - »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. In dieser Serie sah sie zum ersten Mal die Straßen von Berlin und dachte: Da will ich hin! Ihr Chef bekam einen Wutanfall, als sie ihm mitteilte, sie wolle jetzt doch lieber erst einmal ihr Abitur machen. »München ist so kalt!«, sagt Gülcan. »In München war ich immer eine Fremde, in Berlin ist alles anders.«

München war keine einfache Stadt für ein Mädchen, das eine syrische Mutter und einen türkischen Vater hatte. Auch wenn der Vater studiert hatte und als Ingenieur bei BMW einen Job hatte, um den ihn nicht nur seine Landsleute beneideten. Auch wenn die Familie in Rosenheim ein eigenes Haus gebaut und eine Firma gegründet hatte. Frau Schäfer, die Lehrerin, mochte Gülcan nicht. »Wir waren nur zwei Ausländerinnen in der Klasse. Und so war das in ganz München!« Da, wo Gülcan heute arbeitet, in der Eduard Mörike Schule in Neukölln, sind 90 Prozent der Schüler Einwanderer. »Und irgendwann ruft uns die Frau Schäfer nach vorne und meint, wir bräuchten nicht zu lernen, wenn wir keine Lust hätten. Aus uns würden ja eh nur Putzfrauen.«


Das traf die junge Gülcan ziemlich genau ins Herz, zumal ihre Mutter tatsächlich als Putzfrau gearbeitet hatte, im Sheraton Hotel, in dem ihr Vater traditionell die Feierabende an der Bar verbrachte. Da haben sie sich getroffen, Özcan, der schöne Mann aus Eskisehir, und Selma, die hübsche Frau aus Nusaybin, einer vom Krieg zerstörten Stadt an der syrischen Grenze. Es war Liebe auf den ersten Blick. Der türkische Özcan und die arabische Selma heirateten heimlich und in Jeans, aber der Widerstand ihrer Familien war so erbittert, dass sich das gerade vermählte Paar kurz nach der Hochzeit wieder scheiden lassen musste. Um dann noch einmal zu heiraten und zusammen zu bleiben bis zum Tod. Aber diese schöne Geschichte kannte Frau Schäfer nicht, »die hat uns total gedisst!« So kam Gülcan von den Vieren und Fünfen nicht mehr herunter, bis die ersten vier Jahre vorüber waren und Frau Bierschneider kam. Da schrieben Gülcan und ihre Freundin plötzlich Einser und Zweier. »Das war prägend«.

Aber wirklich wohl fühlte sich Gülcan in München auch mit Einsern und Zweiern nicht. Ihre Schwestern haben sich mit der Stadt arrangiert, »die sind nicht wie ich.« Die eine leitet seit zwanzig Jahren ein Orthopädiezentrum, die andere ist Sozialarbeiterin und hat zwei Romane veröffentlicht. Dafür ist Gülcan jetzt Schauspielerin. Weil sie damals in München immer »GZSZ« sah, und weil Felix ihr eines Tages Nachhilfe gab, wegen der Fünf in Englisch. Felix, ihre erste Liebe, der zu allem Glück noch eine Großmutter in Charlottenburg hatte, in Berlin Charlottenburg, die ein ganzes Mietshaus besaß und ihnen eine Wohnung anbot. Nur die Nebenkosten sollten sie zahlen, und 2010 stand Gülcan dann am Kotti. Da war klar, dass in Kreuzberg alles möglich war, alles, was in Rosenheim nur ein ferner Traum gewesen war. Da war »plötzlich klar: Ich werde Schauspielerin!«

Natürlich meinte der Vater, sie solle erst einmal ihre Ausbildung abschließen, und auch die Mutter hätte die Tochter lieber in ihrer Nähe gehabt. Andererseits hatten die Eltern schon damals, als Gülcan und ihre Freundinnen sie jeden Abend mit häuslichen Theater- und Bibi Blocksberg-Aufführungen »quälte« , erkannt: »Die hat ein Talent zur Komödiantin!«

Gülcan Maksude Cerdic war sechs Wochen in Berlin, da bewarb sie sich schon bei Reduta in der Gneisenaustraße, einer staatlich anerkannten Schauspielschule. Und da Kindergeld, Bafög, der kleine Job nebenbei nicht reichten für Leben, Studium, Schauspielschule und Kaffeetrinken, legten die Eltern etwas dazu. »Meine Eltern waren immer auf der Seite der Kinder!« Aber Felix, der Freund, mit dem sie nach Berlin gekommen war, und der ihr noch auf der Stadtrundfahrt im Doppeldecker einen Heiratsantrag gemacht hatte, den sie prompt annahm, verstand Gülcan nicht mehr, die doch eigentlich Betriebswirtschaft hatte studieren wollen. Diese Stadt war einfach eine Nummer zu groß für sie, sie hatte seiner Bankkauffrau den Kopf verdreht.

Nun pendelte Gülcan zwischen Kreuzberg, München und Dikili, wo sie die Sommer in dem Haus am Mittelmeer verbrachten, das der Vater gebaut hatte, mit Blick auf das türkisfarbene Wasser und nur ein paar Schritte vom langen Strand entfernt. Jeden Sommer verbrachten sie dort, die Eltern mit ihren drei schönen Töchtern. Als Gülcan in einem dieser Sommer ihren deutschen Freund mitbrachte, war die Aufregung im Städtchen groß, schließlich waren die beiden weder verlobt noch verheiratet. »Aber meinen Vater interessierte das Gerede nicht. Er saß trotzdem den ganzen Tag im Café und trank einen Tee nach dem anderen. Mein Vater war schon eine echt coole Socke«. Kaffeehausbesuche gehörten zu seinem Leben.


Mit dem Vater im Sommerhaus
Auch in Rosenheim, wo Gülcan ihr Fachabitur machte - »täglich Unterricht von 8 bis 16 Uhr«-, war das Kaffeetrinken ein Ritual. »Nach der Schule habe ich meinen Vater mit dem Auto abgeholt, und dann sind wir zusammen ins Cafe Bockmaier gefahren, jeden Tag, und haben Kuchen gegessen. Er erzählte Geschichten von früher, und ich erzählte Geschichten von heute. Meistens von irgendeinem Liebeskummer, den ich mal wieder hatte... - Ach, das war schön!« Auch für Gülcan ist das Kaffeehaus zum Feierabend längst Tradition geworden. »Wenn ich genug habe von meiner Bachelorarbeit und den Computer zuklappe, gehe ich ins Conni Island auf Kaffee und Kuchen. Und erzähle Conni von meinem Liebeskummer.«

Mit ihrem Vater trinkt sie jetzt keinen Kaffee mehr. Ihr Vater ist für immer in Dikili geblieben. Dort wollte er begraben werden. Er hatte zwei schwere letzte Jahre, es ist noch nicht so lange her. Er vergaß alles, erkannte Gülcan nicht mehr, seine eigene Tochter, sein Nesthäkchen. Als sie ihn besuchte, sagte er einmal: »Du, ich erinnere mich an dich, ich habe dich schon einmal irgendwo gesehen....- aber ich weiß nicht mehr wo!«

Er hatte alles vergessen, seine Kinder, seine Frau, das Haus in Rosenheim und das Haus am Meer. Aber dann, in den allerletzten Tagen, fand er noch einmal zu ihnen zurück. Er erkannte sie wieder, fragte, ob es ihnen gut gehe, ob sie genug Geld hätten, und ob mit den Häusern alles in Ordnung sei. Alle dachten, dass gerade ein Wunder geschähe, dass er noch einmal zurückkäme. Aber er sagte, er habe sein Leben gelebt, sie sollten jetzt ihres leben. Er sei immer sehr glücklich gewesen, doch jetzt wolle er gehen. »Wir wollten ihn zurückhalten, wir wollten ihn dabehalten. Aber er war stur. Und dann sagte meine Mutter zu ihm, es sei in Ordnung, er könne jetzt gehen. Da drehte er sich auf die andere Seite - und starb.« Da ist keine Träne in ihrem Augenwinkel, wenn Gülcan Maksude Cerdik diese Geschichte erzählt, nur Bewunderung. »Er wusste immer, was er wollte.«

Aber er ist ein bisschen zu früh gestorben. Er hatte gesagt, er würde seine Tochter einmal in Berlin besuchen, sobald er in Rente gehen würde. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Sie hätte ihm doch so gern diese Stadt gezeigt, mit den breiten Boulevards, mit den vielen türkischen Läden. Er hat sie nicht mehr gesehen, die Stadt seiner Tochter. Er hat auch nicht gesehen, wie Gülcan in Polizeiruf 110 die türkische Putzfrau spielte. Nicht ganz so, wie Frau Schäfer es vorausgesagt hatte, denn Gülcan putzte abends, in der ARD, zur besten Sendezeit, und nicht mehr vor zwei Zuschauern im Wohnzimmer, sondern vor Millionen an den Bildschirmen. Und dann die Kopftuchrolle in dem Film über die NSU-Morde. Und kürzlich in Mütze, Kebab und Sauerkraut, einer Komödie, in dem eine türkische und eine arabische Familie um eine deutsche Schwiegertochter kämpfen. Und demnächst hätte er sie im ZDF sehen können, bei Ella Schön, seine kleine Gülcan, in ihrer ersten Rolle ohne Kopftuch! Der ersten Rolle, in der sie »nicht nur eine kleine Türkin« , nicht nur ein Opfer war. »Das hat mich total gefreut! Endlich da raus zu sein.« Ihr Vater wäre stolz gewesen auf sie.


Foto: Gülcan Maksude Cerdik
Noch stolzer wäre er vielleicht über den Studienabschluss, den er sich immer gewünscht hatte. Seine Tochter ist fleißig und ehrgeizig, seit 2017 studiert sie Sozialwissenschaften und hat 50 Arbeiten geschrieben in den letzten drei Jahren. Ein paar Wochen noch, dann hat sie ihren Bachelor-Titel. Aber am meisten hätte sich ihr Vater vielleicht über diese Stelle an der Eduard Mörike Schule gefreut. Seit 2014 spielt sie dort mit Jugendlichen Theater. Um ihnen zu zeigen, dass sie mehr können als Putzen und Kopftücher tragen. »Die Mörike ist eine Brennpunktschule, wer da hinkommt, gilt schon als verloren. Das akzeptiere ich aber nicht!«

Gülcan Maksude Cerdik zeigt Engagement. Man würde sie gerne behalten an der Schule, sie hat die Schüler unter Kontrolle. Sie spricht ihre Sprache. »Und ich kann schauspielen!« Das ist ein großer Vorteil. Sie kann, selbst wenn sie heimlich lachen muss, so ernst aussehen, dass alle still werden. »Sie sind sehr streng!«, hat kürzlich einer ihrer Schüler gesagt. »Aber das macht nichts, weil Sie sind gerecht.« Darum ist es ihr immer gegangen, in der Schule, im Film und im Leben, seit der ersten Klasse: Mehr Gerechtigkeit. Jedem eine Chance.

Es ist noch nicht lange her, da hatte man sie zu einem Casting eingeladen, »wieder mal eine Kopftuchrolle.« Eigentlich wollte sie ablehnen. Sie will keine Kopftuchtürkin mehr spielen, »das bin ich nicht« , und »ich habe auch keine Lust, ständig dieses Klischee zu bedienen.« Aber dieses Casting war ein besonderes. Es war ein Casting für GZSZ! Ihre Lieblingssendung aus Jugendzeiten. Die Sendung, mit der alles anfing: Berlin, der erste Mann, die Schauspielerei.

Dafür würde sie eine Ausnahme machen. Auch wenn das nicht einfach ist, auch nicht für professionelle Schauspieler: Sich in eine Figur hineinzufühlen, die einem fremd ist, die so ganz anders ist. »Wir müssen ja diesen papiernen Figuren aus dem Skript Leben einhauchen. Wir müssen sie beseelen, sonst wirken sie unrealistisch und unmenschlich. Und dazu greifen wir beim Schauspielen immer auch auf unsere eigensten Gefühle zurück, auf eigene Erfahrungen. Da fließt immer ein Stück eigenes Leben mit ein.«

Gülcan ist nicht traurig darüber, dass sie die Rolle nicht bekam. Wäre es die Rolle einer Tochter gewesen, die ihrem Vater im Café Geschichten erzählt von früher und von heute, von Dikili und von München, dann wäre sie traurig gewesen. Eigentlich wollte sie schon immer ihre eigene Geschichte erzählen. •


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