März 2020 - Ausgabe 217
Kreuzberger
Udo Erdenreich Ich lache auch gern viel und laut
von Hans W. Korfmann
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Udo Erdenreich, Filmvorführer, Rettungssanitäter, Gärtner, Theaterschauspieler, Grafiker, DJ im Anfall, im Eimer und im Mistral. Vor allem aber Flötist, Sänger, Bandoneonspieler, Gitarrist und Bassist. Ein Mann also, der auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann. Der Kunst als Grenzüberschreitung versteht. Ein unsteter Geist, stets auf der Suche nach Neuland, für jeden Neuanfang zu begeistern. »Ich bin immer offen für spannende Projekte. Und irgendwie ist bisher auch immer was draus geworden.« »Da startete ich sozusagen meine Karriere!«, lacht Erdenreich. Als Elfjähriger stand er zum ersten Mal auf der Bühne, tourte als kleiner Faschingsprinz an der Seite seiner Cousine im Winter 1971/1972 von einem Dorf zum nächsten, tanzte an jedem Wochenende in einem anderen Saal mit seiner Prinzessin den Prinzenwalzer. »Da war ich schon richtig auf Tournee. Und jedes Mal furchtbar aufgeregt. Und das bin ich heute noch. Obwohl ich jetzt ja schon einiges hinter mir habe!« Ein paar Jahre später, als Udo schon bei einer Punkband namens Sperrfeuer spielte, fuhren sie nach Berlin, um selbst aufzutreten. Das Konzert, das in einem besetzten Haus in der Bülowstraße stattfinden sollte, war nur durch Mundzumundpropaganda und ein paar Flyer angekündigt worden, »aber als wir hinkamen, war alles voller Bullen und das Gebäude komplett abgeriegelt. Wir kamen nicht rein!« Also fuhren die Neuburger wieder heim, um dann eines Tages tatsächlich im Neuburger Stadttheater aufzutreten und den ehrwürdigen Biedermeierbau mit lauter Musik zu erschüttern. Woraufhin eine Zeitung erstmals vom Neuburger Punkpapst schrieb. Irgendwann wurde Udo dieses ständige Hin und Her zwischen Donau, Themse und Spree zu anstrengend. Und da Neuburg viel an Attraktivität eingebüßt hatte, seit er diesem Nazitypen mit der Sonnenbrille gegenüber gesessen hatte, der ihn beim ersten Verfahren als Wehrdienstverweigerer hatte durchfallen lassen, dachte er ohnehin schon länger ans Auswandern. Die Monate, in denen der Zivildienst-leistende im Notarztwagen Schwerverletzte versorgen und Kinder zur Welt bringen musste - »weil die mich immer nach hinten schickten, um vorne quatschen zu können!« - hatten das Bild von Neuburg auch nicht wesentlich aufhellen können. Da er Publizistik und Theater studieren wollte, blieb eigentlich sowieso nur noch Berlin. Aber wie so viele, die nach Berlin kamen, um zu studieren, erwarb er niemals den Magistertitel. In dieser Stadt wurde man ständig abgelenkt! Das fing schon damit an, dass quasi gegenüber von seiner ersten Berliner Wohnung im Wedding das Atonal- Festival stattfand. Außerdem war in jedem zweiten Berliner Hinterhof irgendein kleines Theater versteckt. Das Schlimmste aber war, dass Berlin voller interessanter Musiker und voller alter Tanzsäle und Hallen und Kneipen war, in denen man Musik machen konnte. Es dauerte etwa vier Jahre, da war Udo ein anerkannter Kreuzberger, das SO36 »war quasi unser Proberaum. Wir hatten da vier fette Boxen stehen, damit haben wir den ganzen Saal beschallt.« 1987 gründeten sie eine Band namens Ziguri, bei der Udo den Bass spielte. Mit dabei war damals auch ein Amerikaner, den es gerade nach Berlin verschlagen hatte, und der schon bei Iron Butterfly und bei den Beach Boys hinterm Schlagzeug gesessen hatte. »Und da war dann so ein Buto-Tanz-Festival, und Zam Johnson, der Amerikaner, brachte seine ganze Elektronik mit, eine Wahnsinnsanlage. Aber im Esso war die Elektrik derart desolat, dass Zam an diesem Abend seine gesamte Anlage aufgeraucht hat!« Der Musikerfreundschaft hat das nicht geschadet. Gerade haben sie wieder eine Platte aufgenommen, natürlich Vinyl, 33 Jahre nach der Gründung von Ziguri! Und sie machen auch nach 33 Jahren immer noch Musik »für ein Nischenpublikum. Sonst hätten wir ja gar keine Zeit mehr dafür, was Neues zu probieren. Wenn man Erfolg hat, bleibt keine Zeit mehr für so was.« Auch Günter Schickert ist noch dabei, eine »Gitarrenlegende! Seine erste Platte hieß Samtvogel, heute eine Kultscheibe bei den Krautrockern.« Und Dieter Kölsch, der Drucker, ist auch noch da. Über den hatte der Student Erdenreich sogar einen fünfzehnminütigen Film gedreht: »Printers Heart«, das Herz des Druckers: ein Porträt. Erdenreich hatte kaum mit dem Studium begonnen, da stieg er beim Theater Hundertfleck ein. Warum sollte er Theater studieren, wenn er auch gleich Theater spielen konnte. Diese Theaterwissenschaftler landeten am Ende doch sowieso alle bei der taz und schrieben für kleines Geld frustrierte Rezensionen. »Ich erinnere mich noch - wir spielten Die Pest von Camus im Esso - wie einer meiner Kommilitonen über diesen Pickelpunker schrieb, der die Musik macht. Gemeint war ich. Als ich ihn später mal traf, wusste er angeblich von nichts mehr….« Udo jedenfalls stand lieber auf der Bühne, als dass er auf der Schulbank saß. Spielte lieber Bass oder Theater, als dass er schrieb. Mit Gruppen, die in den Hinterzimmern und Gasträumen alter Kneipen spielten, zum Beispiel in der Friesenstraße Ecke Arndtstraße, wo heute dieser teure Blumen-Deko-Laden ist, und wo früher das Berlin Mitte und später das Zum geteilten Elektriker war. Udo Erdenreich hat ein gutes Gedächtnis für Kneipennamen. Je umständlicher sie klingen, umso tiefer haben sie sich eingeprägt. Auch die Namen der Schauspielgruppen und Punktruppen, bei denen er mitarbeitete, attestieren einen gewissen Hang zum Mysteriösen, zumindest zum Kryptischen, Umständlichen, Rätselhaften: Da war ganz am Anfang eine Truppe, die sich »Passagiere auf dem Zwischendeck des Lebens« nannte. 1985 folgte das Theater Hundertfleck, und 1990 dann das RA.M.M .- Theater in den Mühlenhaupthöfen. Fünf Jahre stand Erdenreich, begleitet von seinem Bass, mit der Theatergruppe auf der Hinterhofbühne. Es gab großartige Abende, sogar das legendäre Londoner Living Theatre, das erste Straßentheater der Welt, trat in der Fidicinstraße auf. Aber nicht alles drehte sich um Kreuzberg. Manchmal verließen die Künstler ihre Hinterhöfe, um unter freiem Himmel aufzutreten. Der Bassist Erdenreich spielte vor 4000 Leuten in Amsterdam vor dem Van Gogh Museum und vor mehr als 1000 Leuten auf dem Todesstreifen hinter dem Gropiusbau. »Trotzdem habe ich noch immer das gleiche Lampenfieber wie damals als Faschingsprinz. Vor allem, wenn dann nur vierzig so bärtige Leute da sind, so wie letztens in Chemnitz, und die schauen dich alle schräg an… - da würde selbst Mick Jagger nervös werden. Und wenn die dann gleich beim ersten Stück voll mit-gehen, und wenn dann auf dem Heimweg auf der Autobahn im Stau so ein Lkw-Fahrer neben dir das Fenster runterkurbelt und sagt: Geiles Konzert gestern Abend, macht weiter so! - dann ist das einfach geil.« Theater, Musik, Wissenschaft, das alles sind Geistesdisziplinen, künstliche Parallelwelten, die einander nicht in die Quere kommen. Die sich oft überschneiden, bei denen Grenzüberschreitungen geradezu notwendig sind. 1994 aber kam etwas ganz anderes hinzu: Karen Thastum. Es war auf einer Veranstaltung im Zeiss-Planetarium, einer multimedialen Performance mit einem ganzen Kranz von Diaprojektoren, die, begleitet von sphärischer Musik, Bilder unter die Sternenkuppel werfen sollten. Zu diesem »Intergalaktischen Musikertreffen« waren spacige Bands wie die Elektronauten eingeladen, und die Bilder, die an die Decke geworfen wurden, kamen von Karen Thastum, einer dänischen Musikerin und Künstlerin, die mit einem Container voller Diaprojektoren durch die Welt zog, ihn auf Hügel, Höfe oder Plätze stellte, um Lichtbilder an Hauswände und Decken zu werfen. Der Container ihres Tura Ya Moya - Projektes war durch ganz Skandinavien bis nach Island und Grönland gereist, stets begleitet von außerordentlichen Musikern wie Marilyn Mazur oder Thomas Agergaard. 1994 kam der Bassist Udo Erdenreich dazu. Drei Jahre später wurde die erste Tochter geboren, neun Jahre danach die zweite. Es war gerade wieder mal Berlinale, Udo war die halbe Nacht unterwegs, und als er um zwei Uhr heimkam, hatten die Wehen eingesetzt. Als die Hebamme endlich eintraf, »lagen Karen mit Anna und auch Liv schon glücklich in der Badewanne. Da hatte die Zeit als Rettungssanitäter doch noch was Gutes gehabt.« Udo Erdenreich hätte bestimmt irgendwann seinen Magister gemacht, wenn nicht diese süßen Töchter gewesen wären. »Die Kinder waren mir immer wichtiger als Studium oder Theater oder das Geldverdienen.« Letzteres hatte dem akademischen Abschluss von Anfang an im Wege gestanden. Der Student arbeitete als Sanitäter, Gärtner und, als sie in der UFA-Fabrik jemanden fürs Kino brauchten, als Filmvorführer. »Da saß so ein alter Hase, Gerd Janys, der sich noch auskannte mit den alten Apparaten.« Und weil Udo Erdenreich für spannende Projekte immer zu haben ist, stand er bald auch hinter dem Projektor des legendären SPUTNIK-Kinos im Wedding und verdiente dort das, was Musik und Theater zu wünschen übrig ließen. Aber nachdem die Mauer gefallen war, war das legendäre Kino der Deutschen Bahn im Weg. »Und ich wusste, dass da oben über dem Vorführraum noch die ganzen Plakate aus den Fünfzigern und Sechzigern lagen. Und ich hatte noch den Schlüssel! Aber als ich wieder hinkam, war alles schon abgerissen.« Nach acht Jahren im SPUTNIK hatte sich Udo Erdenreich den Ruf erworben, einer der wenigen Filmvorführer zu sein, die sich noch mit den alten Projektoren auskannten. Weshalb man ihn eines Tages auch ins »Filmlager der Berlinale« holte. Fünf Jahre lang stand er hinter dem Projektor, wenn Wochen vor dem Festival in dem kleinen »Heimkino« die Vorauswahl der Wettbewerbsfilme stattfand. »Manchmal schauten die nur die ersten fünf Minuten an, und schon war der Film durchgefallen.« Udo Erdenreich arbeitet noch heute auf der Berlinale, er könnte viele Geschichten erzählen aus der Dunkelheit des Vorführraums. Ebenso wie er Geschichten erzählen könnte aus dem Rettungswagen oder von der Gärtnerei, zu der ihn die studentischen Heinzelmännchen schickten. »Ich kann das alles nicht so wahnsinnig ernst nehmen«, die Musik, das Theater, die Kunst. »Ich lache auch gern viel und laut. Vielleicht hab ich das von Achternbusch oder Karl Valentin. Das sind für mich sowieso die beiden wichtigsten Bayern überhaupt!« Sie sind auch die einzigen Bayern, von denen er etwas gelernt hat. Abgesehen vielleicht von dem rollenden »R«, das er aus Neuburg mit nach Berlin gebracht hat Die Neuburger nämlich lassen diesen Konsonanten so betont langsam über die Lippen rollen, als hätten sie an der Donau alle Zeit der Welt. Udo Erdenreich scheint diese Zeit immer noch zu haben, mitten in Berlin, und obwohl er auf tausend Hochzeiten gleichzeitig tanzt. Und wenn der Punkpapst von Neuburg mit seinem rollenden »R« zu erzählen beginnt, zaubert er tatsächlich ein bisschen Gemütlichkeit in die Hektik der Großstadt. Aber dann nimmt er wieder den Bass. Dann kommt »zum Glück der Punkrock!« • |