Kreuzberger Chronik
Juni 2020 - Ausgabe 220

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Spur der Chauffeure


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von Horst Unsold

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Heinz Otto Bührmann ist Architekt. Als solcher beobachtete er die baulichen Veränderungen der Stadt nach dem Mauerfall mit besonderem Interesse. Dann stieß er auf einige Fotografien aus den Siebzigerjahren. Und machte eine Ausstellung daraus.


Es gibt großartige Ausstellungen in Museen und Galerien. Ausstellungen im Louvre oder im Museum of Modern Art. Es gibt Ausstellungen in berühmten Nationalgalerien, Ausstellungen von Malern, Bildhauern, Fotografen, Historikern, Astrologen, Geografen, Ethnologen; Ausstellungen, an denen ganze Mitarbeiterstäbe viele Jahre lang arbeiten, deren Exponate Ozeane überqueren und schwierige bürokratische Hürden; Ausstellungen, auf die Fernsehkameras aus aller Welt gerichtet sind, und zu deren Eröffnungen ein internationales Publikum anreist.

Und es gibt Ausstellungen, zu deren Vernissagen gerade mal fünf Freunde kommen. Kein Politiker, kein Journalist. Ausstellungen, an denen kein umfangreicher Mitarbeiterstab arbeitete und deren Exponate aus einem Wohnzimmer kaum fünfhundert Meter entfernt kommen. Ausstellungen, die nicht in Nationalgalerien, sondern im Rathaus, und nicht einmal das: In einem ehemaligen Bezirksrathaus stattfinden, das nur noch eine Zweigstelle des Bezirksamtes ist, in dem die Ämter für Soziales und Gesundheit, Bauen und Wohnen untergebracht sind. Hier, in der Yorckstraße, eine Etage unter dem Wartesaal, in dem alle 30 Sekunden, begleitet von synthetischem Piepsen, eine dreistellige Nummer auf der Anzeige erscheint, die den Bürger 634 dazu auffordert, sich zu erheben und in einem der langen Gänge mit den durchnummerierten Türen zu verschwinden, um sein Arbeitslosengeld zu beantragen - hier hingen einige Wochen lang die Fotografien von Hans D. Reichhardt.

Hunderte, Tausende liefen zwei Monate lang an ihnen vorüber. Nur wenige blieben stehen und sahen sich diese Bilder genauer an. Einige von ihnen aber schrieben danach solche Sätze ins Gästebuch wie: »Ganz wunderbar. Das wäre eine größere Ausstellung wert.«

Ob es zu einer solchen großen Ausstellung kommen wird, in der die Bilder jene Beachtung finden, die ihnen zusteht, ist ungewiss. Sie ist nicht unbedingt für ein großes Haus gemacht, sie ist eher das Ergebnis einer Kette von Zufällen als das eines ausgearbeiteten Konzeptes. So ist sie auch in ihrer Selbsteinschätzung bescheiden und vorsichtig, versteht sich zwar als »Hommage an den Fotographen Hans D. Reichhardt«, aber nicht als museale Retrospektive, sondern eher als: »Berliner Skizzen - Erinnerung und Baugeschichte im Dialog.«

Und als Heinz Otto Bührmann, der diese Schautafeln im Rathaus an der Yorckstraße zusammengestellt hat, wenige Tage vor dem Abbau noch einmal davor stand, sagte er es noch ein bisschen bescheidener: »In gewisser Weise ist das hier alles Erinnerung.«

Bührmann ist keiner, der sich mit einer Ausstellung profilieren muss. Er hat sie für die Nachbarn gemacht, die Kreuzberger. Insbesondere für einen, der nur zwei Häuser neben ihm wohnte, den er aber nie wirklich kennen lernte: Hans D. Reichhardt. Er kannte ihn nur vom Sehen, aber als Bührmann eines Tages in den Fotoladen an der Ecke zur Zossener Straße kommt, dem er schon vor dreißig Jahren seine Filme zum Entwickeln anvertaute, fragte ihn der Fotohändler: »Sie sind doch Architekt? Ich habe hier noch ein paar Fotografien vom Herrn Reichhardt, der kürzlich verstorben ist. Er hat sie mir einmal dagelassen mit der Bitte, sie an jemanden weiterzugeben, der Interesse daran hat. Haben Sie Interesse?« Mit diesen Worten überreichte er seinem Stammkunden einige Glasplatten mit etwa sechzig sorgfältig gerahmten Diapositiven im Format 4 x 4. Die Bilder mussten dem Verstorbenen etwas bedeutet haben.

Das ist nun zwei Jahre her, und seitdem hat sich Bührmann immer wieder über diese Dias gebeugt, sich regelrecht »in sie vertieft.« Er sah alles wieder, die vergangenen Straßenzüge Westberlins, die Brachen der 70er-Jahre mit ihren einsamen, alleinstehenden Häusern, mit dem Haus Huth, dem Hotel Esplanade, dem Canarishaus, dem Buderus-Haus. Beim Betrachten der Bilder ging Bührmann auf »Spurensuche« , begab sich auf eine Route, die er vor fast einem halben Jahrhundert täglich gefahren war. Da war Bührmann noch Student der Architektur und fuhr nebenbei Taxe. Auch Reichhardt war auf dieser Strecke gewesen, allerdings zu Fuß und ausgerüstet mit seiner Fotokamera.

Bührmann erinnert sich: »Wir mussten ja immer, wenn wir nach Norden wollten, - und meistens fuhren wir nach Norden: Tegel, Rei-nickendorf, Wedding, Moabit... - um die Mauer herum. Die war uns ständig im Weg.« Auf einer Tafel erläutert er die Route, die sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht: »An der Taxi-Halte am Anhalter Bahnhof (Photo 5), kurz Anhalter genannt, ging die Fahrt los. Die ersten Meter dieser legendären Strecke waren der Auftakt. Zum Warmmachen ging es durch die Doppelkehre, (Photos 5 u. 6) einer der abenteuerlichsten Parcours des alten Westberlin, dann vorbei am Hotel Hervis International (Photo 7). Der alte Daimler brauchte von 0 auf 100 gefühlt mehrere Minuten. Hatte man die lange Gerade (Photos 8 u. 9: Bernburger Straße) erreicht - zur Linken die Stadtklause hinter sich gelassen - fuhr man an der rechten Seite an der St. Lukas-Kirche vorbei. Mit dem Blick auf ein markantes Gebäude (Photo 8: Deutsche Zentraldruckerei) ging die Fahrt Richtung Köthener Straße (Siehe Tafel 4) weiter.«

Auf den Bildern der Ausstellung im alten Rathaus an der Yorckstraße kamen die Betrachter noch einmal am Zelt des Tempodroms vorbei, am alten Haus Huth, mutterseelenallein im Niemandsland. Sie sahen die so genannten »Besuchsstationen« am Ende der Potsdamer Straße mit den Reisebussen und den ersten Berliner Souvenirläden mit Postkarten und Eis am Stil. Die exponierten, von den Bomben verschonten Häuser waren die wichtigsten Orientierungspunkte der Berliner Chauffeure. Heute weiß man nicht einmal mehr, wo sie standen!« Sie sind verschwunden, eingebaut oder aber fünfzig Jahre nach Kriegsende doch noch abgerissen. »Ganze Straßenzüge sind verschwunden.« Auf den Bildern waren sie alle noch da.

Zwei Jahre lang beugte sich der ehemalige Taxifahrer über die Lichtbilder und erzählte davon den Gästen im Kleinen Weinstock in der Fidicinstraße. Dort war man der Meinung, dass die Bilder der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden sollten. Gemeinsam mit Andreas Reidemeister, einem befreundeten Architekten, entwarf er eine »Ausstellung über Kreuzberg und Umgebung zum Thema Wende« . Denn wäre die Wende nicht gekommen und wäre die Mauer nicht gefallen, dann sähe Berlin womöglich noch heute genau so aus wie auf diesen Fotografien von Reichhardt.

Es war keine Ausstellung im Gropiusbau und es waren keine namhaften Historiker oder Fotografen, die uns hier einen eindrucksvollen Ausschnitt aus der Geschichte Berlins vermittelten. Aber auch solche kleinen, kaum beachteten Ausstellungen am Rande können berühren und bewegen. »Herzlichen Dank« schrieb eine der Besucherinnen ins Gästebuch, »für die schönen oder auch unschönen Erinnerungen.« Und bot Bührmann an, eine Vortragsreihe mit den Bildern Reichhardts zu gestalten. So könnte die kleine Ausstellung, die zwei Monate lang nur den Empfängern von ALGII und jenen, deren Pässe abgelaufen sind, vorbehalten war, womöglich eines Tages doch noch ein größeres Publikum erreichen. Zu wünschen wäre es ihr. •

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