Juni 2020 - Ausgabe 220
Literatur
Cavalcade des Grauens (1) von Connie Roter |
Es ist der 3. Februar 1945, im sechsten Jahre des Ringens um die “Ideale der Menschheit”, einer der sonnigen Tage, die den bevorstehenden Lenz ankünden und damit auch wieder die trügerische Hoffnung auf einen nahen Menschheitsfrühling wecken. - Wir sind bei der Arbeit in unserem Betrieb: Verlag Curt Cowall, Berlin SW 68, Ritterstr. 71. Da wir wußten, daß die Anglo-Amerikaner wieder eine reiche Fliegertätigkeit entfaltet hatten, stellten wir den „Drahtfunk“ ein, um unterrichtet zu sein. (...) „Achtung! Achtung! Hier ist der Divisionsgefechtsstand Berlin. Starker Kampfverband über Nordwestdeutschländ mit Teilen über Hannover-Braunschweig im Anflug auf Mark Brandenburg!“ - War noch vor wenigen Monaten „Hannover-Braunschweig“ ein Stichwort für die Berliner, so ist jetzt bei der steigenden Geschwindigkeit des Anfluges bereits das Wort „Nordwest-deutschland“ zum Begriff der Luftlage für die Reichshauptstadt geworden. Trotzdem werden die letzten Briefe zu Ende geschrieben und die Schreibmaschinen dann in den hoffentlich sicheren Keller getragen. Immer noch haben wir die Hoffnung, daß unsere Stadt nicht zum Angriffsziel der Amerikaner wird, die am Tage Tod und Verderben über deutsches Land tragen, während des Nachts die „Royal Air Force“ dieses Zerstörungswerk fortsetzt. Doch bald gibt es keinen Zweifel mehr, die Alarmsirenen schrillen auf. Das mißtönende Geheul dieser Defensivwaffe der Heimatfront läßt in allen Herzen bange Furcht aufsteigen und die tausendfache Frage, wen es diesmal treffen wird. Ich höre noch die Worte des Rundfunksprechers „fliegen in breiter Front in das Stadtgebiet ein“ und werfe noch einen letzten Blick auf unsere schönen Räume, ohne zu ahnen, daß bereits alles der Vernichtung geweiht ist. Schweren Herzens gehe auch ich in den Keller. - Die Uhr zeigt genau auf Elf. - Drückende Stille lastet auf den Menschen in dem schmalen Gang, der für 20 Personen gedacht ist und heute mehr als das Vierfache davon aufnehmen muß. Das ferne Brummen der ersten Welle nähert sich schnell, und dann fallen auch schon Bomben. Es summt und heult, dumpf dröhnen die Aufschläge. – Die Uhr zeigt elf Uhr und zehn Minuten. - In diesem Augenblick tönt ein Zischen auf, in der Ferne noch, doch als es stärker und immer stärker wird, wissen wir, daß es diesmal uns gilt. Wir ducken uns un-willkürlich. Ein dumpfer, mächtiger Schlag läßt das Haus in den Grundfesten erschüttern und das Licht erlöschen. Die Luft ist stickig und dick. Der Strahl einer grell aufblitzenden Lampe durchschneidet mühsam die dichte Wolke aus Kalkstaub, die schwer über dem engen Raum lastet. – Und jetzt folgt Bombe auf Bombe, in Sekundenabständen, die zu Ewigkeiten werden. Das Atmen wird immer schwerer. – Nun Ruhe – vorbei! • (Fortsetzung im nächsten Heft) Hrsg. Peter Dörp:„Die Tagebücher des Verlegers Curt Cowall. 1940-45“, Berlin Story Verl. 2020. |