Dez. 2020/ 2021 - Ausgabe 225
Strassen, Häuser, Höfe
Die Zimmerstraße von Horst Niemann |
Zmmerstraßen gibt es viele. Denn ohne die Maurer und ohne die Zimmerer gäbe es keine Straßen. Die einen mauern die Wände, die anderen setzen ihnen das Dach auf. Und deshalb gibt es kaum eine Großstadt, die nicht auch eine Zimmerstraße besäße, selbst im Ausland tragen Straßen diesen deutschen Namen. Berlin hat gleich drei von Ihnen. Die berühmteste ist die Zimmerstraße im Stadtteil Kreuzberg. Als Friedrich Wilhelm 1721 auf die Idee kam, die Friedrichstadt zu »Klein Paris« ausbauen zu lassen - einer repräsentativen Vorstadt, die südlich des Schlosses beginnen und bis zum großartigen Rondell vor dem Halleschen Tor reichen sollte, errichteten die Zimmerleute, unter ihnen viele hugenottische Einwanderer, hier ihre Lagerplätze und ihre zweistöckigen Handwerkerhäuser. 1734, als sie mit der neuen Friedrichstadt fertig waren, erhielt die nördlichste Straße des neuen Stadtteils zu Ehren der fleißigen Handwerker deren Namen. Berühmt wurde die Kreuzberger Zimmerstraße, als die Stadt nach dem 2. Weltkrieg geteilt und eine Mauer auf ihr errichtet wurde. Selten standen sich Ost und West so unmittelbar gegenüber wie hier, selten war die deutsche Teilung in ihrer Dramatik sichtbarer als in der Zimmerstraße, wo der antiimperialistische Schutzwall unmittelbar vor den letzten Kreuzberger Häusern und gleich hinter dem Gehsteig empor-ragte. Heute markieren in das Asphaltband der Straße eingelassene Pflastersteine den ehemaligen Grenzverlauf Die greifbare Nähe des Westens verleitete einige Ostberliner zu Fluchtversuchen. Am Mittag des 17. August 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, versuchten es Helmut Kulbeik und Peter Fechtner. Während Kulbeik schon auf der sicheren Seite war, traf den 18jährigen Peter Fechtner noch auf der Mauer eine Kugel in den Rücken. Mehrere Zeugen bestätigten, dass der Schuss ohne Vorwarnung gefallen war. Eine Stunde lang lag der schwer Verletzte auf dem Todesstreifen und verblutete, ohne dass Hilfe eintraf. Die Bilder des leblosen Körpers eines jungen Mannes in den Armen der Grenzsoldaten gingen damals um die Welt. Sie sind noch heute an Ort und Stelle auf einer Geschichtstafel zu sehen. Nicht weit von hier sauste auch in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli eine dreiköpfige Familie vom Dach des Hauses der Ministerien mit einer selbst konstruierten Seilbahn in die Freiheit. Der sowjetische Beobachtungsposten hatte die Aktion bemerkt, doch glaubte man, es handele sich um DDR-Agenten, die unbemerkt ins Feindesland eingeschleust werden sollten. Heute zeigt ein Comicstreifen an der Hauswand Szenen der Flucht. Wieviele DDR-Bürger darüber hinaus mit gefälschten Papieren den Checkpoint Charlie an der Kreuzung Friedrichstraße/Ecke Zimmerstraße passierten, ist nicht bekannt. So steht die Zimmerstraße heute ganz im Zeichen der Mauer und des untergegangenen zweiten deutschen Staates. An der Zimmerstraße kommen sämtliche Sightseeingbusse vorbei, hier steht die temporäre 360-Grad-Panorama-Installation vom Leben mit dem Todesstreifen, hier steht das Trabbi-Museum und hier startet die Trabbi-Safari. Hier wird das Geschäft mit der Geschichte gemacht, wirbt TimeRide auf Englisch für Virtual Reality, und auf Deutsch für eine Zeitreise ins geteilte Berlin. Ein bisschen etwas von der grauen Vorgeschichte der Zimmerstraße wird allerdings auch erzählt. Am berühmten Café Einstein hängt eine Tafel mit Bildern des Hauses, in dem sich zwischen 1822 und 1970 die Apotheke Zum Weißen Adler befand. 1975 sollte das mehr als 200 Jahre alte Haus abgerissen werden, die ehemalige Apothekerin schrieb damals auf einer Postkarte an die Verwandtschaft: »Das Haus ist geräumt, es wohnen noch im ersten Stock ein Journalist und in der Portierswohnung eine alte Dame. Die wollen erst gehen, wenn das Abrisskommando kommt. Dann hausen noch einige Studenten in der zweiten Etage.« Inzwischen ist das barocke Gebäude restauriert und unter Denkmalschutz gestellt. Ebenso wie die ehemalige Markthalle III, die 1886 in der Zimmerstraße Nr. 86-91 eröffnete. Da sich die Halle nicht rentierte, wurde 1910 das Konzerthaus Clou darin eröffnet, das mit 4000 Plätzen größte Tanzlokal Berlins. Als die Nazis anrückten, war es mit dem Tanzen vorbei, jetzt wurden im großen Saal laute Reden gehalten, in den Seitenflügeln Propagandaschriften gedruckt und in den Kellern Menschen gefoltert. Später diente das einst stattliche Gebäude sogar als Sammellager für jüdische Zwangsarbeiter. Die Zimmerstraße hat viele Geschichten zu erzählen, nicht nur Mauergeschichten. So auch die von Adolf Menzel. Aber die wurde an hier ja bereits erzählt. (Kreuzberger Nr. 110) • |