April 2020 - Ausgabe 218
Geschichten & Geschichte
O ewich ist so lanck! (12): Rahel Varnhagen von Eckhard Siepmann |
Wer sich einfallen ließe, mit verbundenen Augen die Solmsstraße hinunter zu laufen, würde schließlich gegen ein eisernes Gittertor stoßen. Bei abgenommener Binde fiele der Blick auf das Grab eines der berühmtesten Paare der deutschen Geschichte: Rahel und Karl Varnhagen. Karl wäre nicht berühmt geworden ohne die berühmte Rahel, und Rahel wäre nicht berühmt geworden, hätte nicht Karl aus ihren abertausend Briefen und Notizen nach ihrem Tod ein vielbändiges Werk zusammengestellt. Rahel war 1771 zur Welt gekommen als Rahel Levin, und sie suchte ihr Leben lang, genauer: bis kurz vor ihrem letzten Atemzug, nach einem Fluchtweg aus dem Judentum. Das Kind Rahel bemerkte schon bald, dass seine Gesichtszüge im Spiegel nicht gerade harmonisch waren. Dazu kam, dass sie schon früh begriff, dass die jüdische Herkunft ihr, wenn nicht die Verachtung, so doch die Disqualifizierung durch eine bornierte Umgebung eintrug. Die Kombination von sozialer Ausgeschlossenheit und körperlicher Unansehnlichkeit ließ in der heranwachsenden Rahel ein Gefühl der Benachteiligung entstehen, gegen das sie zeitlebens ankämpfte. Aber gerade dieser Kampf war es, der die schönsten Früchte trug und sie zu einer herausragenden Gestalt in der Emanzipationsgeschichte der Frau und des Judentums machte. Befähigt wurde sie zu diesem Triumph durch eine Gabe, die ihr reichlich zuteil wurde und die einfach und umstandslos zu benennen ist: Geist. »Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen! Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenigen Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren und das innerste Herz trafen«, so schwärmt ein adeliger Salonbesucher. Hanna Arendt präzisiert: »Sie kann das Entfernteste im Witz zusammenbringen, sie kann im Zusammenhängendsten die Zusammenhanglosigkeit aufdecken.« Hier einige Beispiele für ihren inspirierten Witz: »Was machen Sie?« - »Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.« Höchst paradox und zugleich tiefsinnig urteilt sie: »Wer nicht alt wird bei jungen Jahren, wird ewige Jugend nicht bewahren.« Und geradezu postmodern formuliert die Vielgeprüfte, als sie einen Ausweg aus ihrer Verzweiflung in der Verwandlung des Lebens in eine Erzählung zu ertasten versucht: »Es ist besser, nur eine Anekdote zu sein als ein Mensch mit Eigenschaften.« Während ihre Freundschaften zahlreich und erfolgreich waren, scheiterten ihre Liebesbeziehungen. 1795 hatte sie sich Karl Graf von Finckenstein angeschlosssen, der die Verbindung mit dem »Judenmädchen ohne Mitgift« 1800 wieder löste. Die Verlobung mit dem spanischen Legationssekretär Don Rafael d‘Urquijo verlief nicht weniger unglücklich: Der körperlich schöne und geistig leicht beschränkte Diplomat raste vor Eifersucht wegen der vielen Salonbesucher. 1806 , nach der Auflösung ihres Salons, stürzte die Gastgeberin in tiefe Einsamkeit: »So ist alles anders! Nie war ich so allein. Nie so durchaus und bestimmt ennuyiert. Seit meiner infamen Geburth musste das ja Alles so kommen.« Das Leben atmete keine Kinderküsse, keinen Rosenduft, Nachtigallenton, Lerchenwirbel mehr, es öffnet sich vielmehr eine unendliche Leere. 1814 tritt sie zum Christentum über und heiratet Karl August Varnhagen. Der hatte in seinen Familienanalen so lange herumgewühlt, bis er unter seinen verblichenen Vorfahren einen Adeligen mit Nachnamen von Ense entdeckte. So öffnen sich für Rahel Varnhagen von Ense abermals die Tore zum preußisch-adligen Berlin, sie empfängt wieder parlierende Gäste. Doch war der frühe Salon romantisch und wild, so geht es nun gemäßigter zu. Unter den Besuchern sind wieder der frühere Romantiker Tieck, der sich inzwischen zum Realisten gemausert hat, die Rahel-Freundin und Salonière-Kollegin Henriette Herz, die Humboldt-Brüder, jetzt aber auch der bedächtige Hegel, der österreichische Dichter Grillparzer, Bettina von Arnim, die Familie Mendelssohn Bartholdy und der junge aufgekratzte Heine. Rahel begeistert sich für Mystik, für Jakob Böhme und Angelus Silesius. Sie studiert die Frühformen des Sozialismus, liest Saint-Simon, einen Vorläufer von Marx. Ihr Blick ist nicht mehr fokussiert auf die eigene Befreiung, sondern richtet sich auf die Emanzipation der Juden und der Menschheit überhaupt. Auf dem Sterbebett vollzieht sich die letzte Wende, Rahel ändert ihre Einstellung zum Judentum, an der sie seit ihrer Jugend festgehalten hatte: »Welche Geschichte! Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich! Mit erhabenem Entzücken denk‘ ich an diesen meinen Ursprung. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, als eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht‘ ich das jetzt missen!« Neben ihrem Grab auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof ruhen ein geistreicher Cellist aus der Solmsstraße und eine antiautoritäre Filmemacherin. Diese Nachbarschaft wird ihr gefallen. • |