Kreuzberger Chronik
September 2019 - Ausgabe 212

Reportagen, Gespräche, Interviews

Das Kulturhaus Peter Rosegger


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von Michael Unfried

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Sie steht nicht in der ersten Reihe, sondern ein Stück zurückgesetzt von der Bergmannstraße: die 133ste und 149ste Gemeindeschule Berlins. Ein elfseitiges Papier zum Schulentwicklungsplan, ergänzt durch 13 Seiten Zahlenmaterial, das das notwendige Ende des Schulbetriebes legitimieren sollte, besiegelte vor 15 Jahren ihr Schicksal. Weil weder Bezirk noch Senat Geld in das 1886 errichtete Backsteingebäude investieren wollten, wurde es für 39 Jahre verpachtet. In der Turnhalle entstand ein Boxcamp, im Schulgebäude zogen Musikschulen ein. Doch bald bot die Schule ein trauriges Bild: der Wind blies das Laub im Hof zusammen, ein Hausmeister scheuchte Kinder vom Privatgelände, und gleich drei Etagen des Backsteingebäudes blieben komplett ungenutzt, weil das Bauamt sie wegen neuer Brandschutzbestimmungen schließen ließ. Den Pächtern, die gemeinsam mit dem Konservatorium für Türkische Musik und ihrer Global Music Acadamy im Erdgeschoss einzogen, fehlte das Geld für eine aufwendige Sanierung. Subventionen gab es keine.

Doch nun soll das Gebäude wiederbelebt werden. Im Frühjahr konnte der Bezirk den Erbbaupachtvertrag über die etwa 2000 Quadratmeter an der Bergmannstraße vorzeitig auflösen. Seit Mai ist das Bezirksamt wieder stolzer Besitzer der Bergmannstraße 28/29. Unverzüglich meldeten verschiedenste Ämter und Institutionen Bedarf an. Insgesamt - addiert man die Zahlen auf dem Papier - fehlen dem Bezirk 2,5 Millionen Quadratmeter. Benötigt werden sie für Schulen, Kitas, Senioreneinrichtungen, aber auch die Abteilung mit dem etwas lang geratenen »Kürzel« ArbBüDGesSoz verweist auf das Gebot der »Wohnraumversorgung von Menschen mit seelischen Behinderungen« und möchte Wohngemeinschaften im Schulhaus einziehen lassen.

Die Ressorts mit den Kürzeln FinUmKuWbi und WbiKu allerdings, die sich um Bildung und Kultur im Viertel kümmern sollen, möchten das Haus lieber zu einem Kulturzentrum umbauen: Die Musikschule Kreuzberg hätte gerne 3200 Quadratmeter zusätzlich, um die wachsende Nachfrage unter den bildungsbewussten Neukreuzbergern zu stillen; die Volkshochschule braucht 2000 Quadratmeter, die kulturgeschichtlichen Archive mindestens 1600, und bei den Bibliotheken beziffert man den Fehlbedarf mit »12.200 Quadratmetern Publikumsfläche«.

Hinzu kommt das Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße, das bei einer Firma namens Deutsche Wohnen eingemietet und auf deren guten Willen angewiesen ist. Weshalb »eine Integration von Teilen des FHXB-Museums«, so die Drucksache DS/0950/V vom 2. Mai 2019, »am Standort Bergmannstraße denkbar« wäre.

Es sind die etablierten Einrichtungen, die seit Jahren im Kulturbereich aktiv sind, die in diesem Papier als künftige Nutzer des Gebäudes in Betracht kommen. Erst am Ende des Schreibens wird darauf verwiesen, dass es neben staatlichen auch bürgerliche Kulturbeiträge gibt: »Hinzu kommt die Verdrängung von Initiativen und Vereinen, die das kulturelle Leben ... des Bezirks bereichern«, jedoch auf Grund der Mietenentwicklung »aus ihren angestammten Räumlichkeiten« verdrängt werden. »Ein Raum für Kiez-Kultur könnte die Arbeit einiger Kultur- und Bildungsinitiativen im Kreuzberger Südwesten sichern.«

Vorausgesetzt, dass die Stadträtin mit diesem »Raum für Kiez-Kultur« mehr als nur ein übriggebliebenes Klassenzimmer am Ende eines langen Flurs der Rosegger-Schule meint, wäre das ein Hoffnungsschimmer für Kreuzberg und das viel zitierte, wenn auch oft schon totge-sagte Künstlerviertel. Ein Viertel, in dem Kreativität einmal mehr meinte als nur die Gründung von Start-Ups und Modelabels. In dem es um Musik, Theater, Literatur ging.

Das respektable Gebäude an der Bergmannstraße mit der Markthalle, den Cafés, den Straßenmusikern und dem Trödelmarkt könnte Platz für so kleine Projekte wie das Kreuzberger Puppentheater aus der Fidicinstraße bieten, dessen Publikum auf 30 Quadratmetern sehr eng zusammenrücken muss. Für Musiker, die in Kneipen Gitarre spielen oder Klavierflügel in Parkanlagen schieben und für eine Hand voll Spenden unter freiem Himmel spielen, weil sie die Miete für Konzertsäle nicht zahlen können. Für Künstler, die ihre Bilder aus Mangel an Präsentationsräumen im griechischen Restaurant am Ende der Friesenstraße aufhängen. Für Galeristen, die weder Provisionen noch Mietbeteiligungen verlangen, sondern die Kunst aus Überzeugung ausstellen.

Es könnte Platz bieten für die Browse Gallery, die es, trotz des Verlustes ihres angestammten Standortes in der Marheinekehalle, auch im letzten Jahr wieder schaffte, mit ihren Ausstellungen zu Pop- und AlbumCoverArt Zehntausende von Besuchern in einen schmucklosen Hinterhof der Bergmannstraße zu locken. Vielleicht hat deshalb Julian Schwarze, der Fraktionssprecher der Grünen im Kreuzberger Rathaus, Anfang Mai John Colton von der Browse Gallery jenes Papier mit der Nummer DS/0950/V in die Hand gedrückt, in dem Clara Herrmann, die verantwortliche Stadträtin, bereits vom KiB, dem »Kulturhaus im Bergmannkiez« spricht, und in dem sie vorschlägt, dass die Anwohnerschaft »womöglich bereits bei der Planung mit einbezogen werden soll.« Anfang Juli traf sich Schwarze mit einem kleinen Kreis Kulturschaffender vor der Markthalle, unter ihnen auch Colton.

Die Kreuzberger sparen nicht an Kritik. Am Tisch entsteht das Bild eines Stadtviertels, das seit dem Fall der Mauer nur verloren und nichts gewonnen hat. Die verschwundenen Off-Theater werden aufgelistet, die geschlossenen Clubs und Kneipen, die verlorenen Galerien, die Einführung der Nachtruhe um 22 Uhr. Colton meint, dass ein Kulturhaus in der Schule eigentlich keine schlechte Idee sei, aber er befürchte, dass »wieder nur die üblichen Verdächtigen zum Zuge kommen«. Dass die Politik, und nicht die Kulturschaffenden, die Kultur machen werden.

Schwarze notiert Ideen wie einen Tag der Offenen Tür, an dem die Kreuzberger sich ein Bild vom Gebäude machen und Ideen zur künftigen Nutzung vorbringen können. Er notiert die Vision von einem Kulturhaus, in dem Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, Film- und Theateraufführungen und politische Diskussionen stattfinden sollen. In der Aula, in der Turnhalle, im Hof - sieben Tage die Woche. Die Vision von einem Haus mit internationalem Programm, für das auf großen Plakaten in ganz Berlin geworben wird. Von einem Café mit einer langen Reihe von Bistrotischen auf dem alten Trottoir der Arndtstraße mit ihren historischen Gaslaternen. Von Klassenzimmern für Workshops und Seminare, Tonstudios und Werkstätten. Von der Verwandlung des verlassenen Hofes in einen blühenden Garten. Der Politiker und die Kulturschaffenden vor der Halle werden allmählich optimistisch.

Doch diejenigen, die vor 15 Jahren das alte Schulhaus anmieteten, um ihre Idee von einem großen Kulturhaus zu verwirklichen, sind skeptisch. Auch wenn die Politiker betonen, dass die Mietverträge mit der Global Music Acadamy und dem Konservatorium für Türkische Musik vorerst Bestand haben. »Es ist nicht so, dass wir die hinausgeworfen hätten«. Aber es ist doch so, dass sie womöglich gehen werden.

»Ob wir bleiben können,« sagt Nima Ramezani vom Konservatorium, »ist nicht so ganz sicher.« Das hängt von den Baumaßnahmen, aber auch vom späteren Nutzungskonzept des Hauses ab. Und leider ist den Leuten im Bezirk »einfach nicht wirklich klar, was wir hier eigentlich machen. Wir sind mehr als nur eine Musikschule.«

Dass das Konservatorium ein wichtiger Beitrag zur Integration der türkischen Bevölkerung sein könnte, hatte bereits Dr. Franz Schulz, seinerzeit Bürgermeister von Kreuzberg, begriffen. Er stellte quasi schon bei den Vertragsverhandlungen zur Verpachtung der Rosegger-Schule die Bedingung, dass die türkische Musikschule einen Platz im Gebäude bekäme. Franz Schulz war klar, dass es die folkloristischen Laienspielgruppen der Kreuzberger Straßenfeste nicht bis in die Deutsche Oper schaffen würden, und dass es in einer Stadt wie Berlin mit 200.000 türkischsprechenden und -singenden Einwohnern eine Schule zur musikalischen Ausbildung und Weiterbildung geben müsse.

Natürlich war er dabei, als 1998 Nuri Karademirli in einer verlassenen KFZ-Werkstatt im Hinterhof der Solmsstraße das Konservatorium für Türkische Musik gründete und Unterricht für Baglama und Oud, allerdings auch für Geige oder Klavier anbot. »Das Konservatorium war eine Idee der türkischen Community!«, sagt Ramezani. Zwölf Jahre später zog sie, gemeinsam mit der Global Academy, in die Bergmannstraße. Inzwischen unterrichten 14 Mitarbeiter 180 Schüler nicht nur im Instrumentalunterricht, sondern auch in Fächern wie Komposition oder Instrumentenbau. Hier, in der verlassenen Schule hinter dem verwahrlosten Schulhof, traf das Babylon Orchestra zusammen. Und hier proben sie noch immer: eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Flüchtlingen und Musikern aus aller Welt, die im Heimathafen, in der UFA, im Hebbeltheater auf der Bühne stand und es tatsächlich bis auf die Bretter des Deutschen Theaters geschafft hat.

Auch die Global Music Adademy ist mehr als nur eine Musikschule. Der Mann, der ihr vorsteht, und der einst mit Bürgermeister Schulz über die Schule verhandelte, war 13 Jahre lang Leiter der Werkstatt der Kulturen. Schon im Haus an der Hasenheide kämpfte er für ein zeitgemäßes und »postkoloniales Kulturverständnis«. Der viel gefeierte Karneval der Kulturen, der Millionen von Besuchern anlockt, war seine Idee.

Jetzt sitzt Freudenberg auf dem allmählich verrottenden Schulhofbänkchen unterm Baum, Blätter fallen. Lächelnd und so, als wäre das eine Geschichte, die schon weit zurück liegt, erzählt er, wie alles begann mit diesem Projekt Rosegger-Schule: Wie dem Bürgermeister die Idee einer internationalen Musikakademie am Marheinekeplatz gefiel, wie er ihm von einem privaten Investor abriet, denn »die sitzen immer am längeren Hebel. Die werden Sie irgendwann vor die Tür setzen!« Aber die Zeiten hätten sich geändert, sagt Freudenberg und hebt die Schultern. »Jetzt ist es genau anders herum gekommen.« Nicht der private Investor hat ihn vor die Tür gesetzt, sondern der Bezirk.

Dabei hatte Freudenberg große Pläne gehabt und viel Zeit und Geld und Herz in die Planungen investiert. Oben unter dem Dach sollte der große Konzertsaal entstehen mit Blick über Kreuzberg. William Ramsay von der Hanns-Eisler-Hochschule wurde zum künstlerischen Leiter einer Akademie, die die erste Hochschule für Weltmusik in Deutschland werden wollte, mit eigenem Studiengang und Bachelor-Abschluss für 270 Schüler im Jahr. Eine enge Kooperation mit dem Konservatorium in Rotterdam war geplant, das Interesse überall groß.

Doch als der Wissenschaftsrat der Musikakademie die Anerkennung als staatliche Hochschule verweigerte, - wenn auch mit dem Vermerk, sich mit einem modifizierten Konzept noch einmal zu bewerben -, kündigte die Bank den Kredit. »Und da sich die Banken ja sowieso aus dem Kultur- und Bildungsbereich zurückziehen wollten, brauchten wir da erst gar nicht weiter zu suchen. Wir brauchten eine Stiftung, um die Sanierung des Gebäudes zu finanzieren.« So kam man mit der Edith Marion Stiftung zusammen, die sich wiederum mit der Kreuzberger Kulturstadträtin an einen Tisch setzte und einen Plan B ausarbeitete, in dem Parallelnutzungen des Gebäudes berücksichtigt wurden. Für den Fall, dass die Akademie finanziell schwächeln sollte. Doch dieser Plan wurde im Bezirk - für Freudenberg völlig überraschend- abgelehnt.

Natürlich würde die Global Music Acadamy nach wie vor wunderbar ins Konzept eines großen Kulturhauses passen. Aber Andreas Freudenberg hat man bereits mitgeteilt, dass seine Akademie nur bis zum Umbau bleiben könne. Davon, dass er nach der Renovierung wieder einziehen könne, hat er »noch nichts gehört«.

Es könnte also tatsächlich wieder einmal so kommen, wie John Colton es vermutet. Die Räume werden an die üblichen Verdächtigen vergeben: An die staatlich-bezirkliche Musikschule von Kreuzberg, die vehement ihren Bedarf anmeldet, an die Volkshochschule und das Museum aus der Adalbertstraße. Andreas Freudenberg hebt die Schultern und zieht die Mundwinkel herunter. »Die Zeiten haben sich eben geändert. Als wir begannen, war die Stadt dabei, gerade alles zu verscherbeln. Fünfzehn Jahre später hat sie bemerkt, dass das ein Fehler war.« Und jetzt will sie eben alles wieder zurückhaben. Haus und Hof. Koste es, was und wen es wolle. •



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