Kreuzberger Chronik
September 2019 - Ausgabe 212

Hausverbot

Latschen im Jodelkeller


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
Die Zeiten, als sich in Kreuzberger Kellern bayerische Exilanten versammelten, um ihr unsterbliches Heimweh mit einigen Maß Bier und lautstarkem Gemeinschaftsjodeln zu bekämpfen, sind längst vorüber. Nicht einmal im Jodel-keller in der Adalbertstraße weiß man etwas von singenden Männern in Lederhosen. »Hier hat noch nie jemand gejodelt,« sagt Andrea, »und wenn hier gesungen wurde, dann klang das immer ganz fürchterlich.«

Andrea ist geborene Berlinerin und steht seit einem Jahrzehnt hinterm Tresen des legendären Jodelkellers. Sie weiß eigentlich alles über die 70 unterirdischen Quadratmeter, auch, dass der bayerische Fleischermeister Jodel in der Nummer 81 zuerst eine Fleischerei, dann eine Mischung aus Fleischerei, Kneipe und Speiselokal betrieb. »Aber was genau das hier war, dat weeß ick ooch nich! Auf jeden Fall hieß das hier immer schon Jodelkeller, genau wie der Bayer, seit 1926.«

Fünfzig Jahre später, in den Achtzigern, ging es hoch her hier unten, da saßen die Angels im Lokal an der Mauer. Noch heute fließt das Bier aus dem Zylinderblock einer Harley. Aber es ist ruhig geworden, seit die Mauer fiel, »wir sind die letzten in der Straße, danach kommt nur noch der Osten«. Von den Stammkunden sind viele gestorben, »die meisten gerade mal sechzig, das ging Schlag auf Schlag...«

Das stimmt selbst die gestandene Berlinerin traurig. Obwohl die Stammgäste manchmal ordentlich nerven. Wenn die reinkommen und glauben, das Lokal gehöre ihnen. Nur weil sie ein paar Tage länger hier verkehren als die Damen hinter dem Tresen. So wie der, der für eine gewisse Zeit im Knast untertauchte. »Alle im Laden haben sich um ihn gekümmert, ihn besucht, ihm Kippen gebracht, das ist ja wie ne Familie hier.« Aber irgendwann war er wieder da.

»Und kommt also eines Tages wieder die Treppe runter, im Winter, mit seinem grauen Zopf hinter der Halbglatze und seiner Weste und seinen ewigen Latschen. Und setzt sich auf den Platz gleich bei der Treppe. Kaum sitzt er, steht er wieder auf und macht die Tür zu. Ich sag: Du, wir brauchen hier frische Luft. Und der sagt: Ich hab aber keine Socken an. - Und deshalb sollen wir jetzt hier ersticken

Der Typ hatte nie Socken an. Und immer nur Latschen. Irgendwann kommt er, setzt sich an seinen Platz am Tresen und dreht zuerst einmal die Glühbirne aus der Fassung. Ihm sei das zu hell hier. »Dann packt er eine Schere aus und fängt an, sich auf dem Hocker die Fußnägel zu schneiden. Klack, klack, klack... - alles voll da unten. Ich hab nichts gesagt! Ich bin nur hin, ganz freundlich, und hab ihn darauf aufmerksam gemacht: Die Glühbirne bleibt da drin und die Fußnägel bleiben da dran! Ist das klar

Jetzt schneidet hier keiner mehr Fußnägel. Aber sonst ist im Jodelkeller alles noch so, wie es schon immer war: Ganz wunderbar. •


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg