Kreuzberger Chronik
November 2019 - Ausgabe 214

Mühlenhaupts Erinnerungen

Die ersten Tage im Leierkasten


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von Kurt Mühlenhaupt

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Die ersten Tage nach der Eröffnung verbrachte ich im Dauerlauf. Ich lief von der Wohnung in den Trödel, vom Trödel in den Leierkasten und zurück. Noch hatte ich nicht den richtigen Rhythmus gefunden. Eigentlich wollte ich die Führung den beiden Frauen überlassen, der Rosi und der Inge, sie hatten auch für den Einkauf zu sorgen. Wer eine Kneipe betreibt, braucht vor allem Bier. Das brachten die Trudeljungs. Um zehn Uhr kam der dicke Robert mit seinem Fahrer vorbei, holte die leeren Tonnen aus dem Keller und trudelte dafür die vollen wieder rein. So eine Tonne wiegt natürlich. Sie wurde vom Wagen geschmissen, von einer Matte aufgefangen, und zur Kellerluke gerollt. Von dort wurde sie runtergeworfen und unten wieder aufgefangen. Das alles war eine Trudelei. Nun wißt ihr, warum sie Trudeljungs heißen. (...)

Der dicke Robert und sein Kutscher machten bei uns Frühstückspause. Rosi stellte ihnen ein Bier und einen Kutscherkorn hin. Meist waren sie schon ein wenig angesäuselt, wenn sie eintrafen, denn sie bekamen ja überall etwas zu trinken. Sie blieben aber immer recht lange, manchmal bis die ersten Arbeiter aus der Fabrik von gegenüber kamen. (...)

Eines Tages wurden wir vom Wirtschaftsamt benachrichtigt, daß gegen uns eine Anzeige vorliegt. Irgendein Lehrer hatte was gegen unsere Bemalung. Weil die Schule nur drei Häuser weiter lag, mussten die Kinder täglich daran vorüber. Das war lächerlich, an der Wand stand: »Wie die Kanäle stinken / notwendig, faul und schwer / drauf wollen wir einen trinken / mein Herr Kanalräumer«

»Da kann man sich doch nicht dran stoßen!«, sagte Rosi. »Die Schrift an der Wand ist doch nur zwei Milimeter dick aufgetragen!«

»Es ist ja nur, weil da die Schule ist!«, sagte der Herr von der Aufsicht.

»Gut«, sagte ich, »Ich bin bereit, was anderes raufzuschreiben, aber nur unter einer Bedingung: Sie müssen dem Kiosk gegenüber verbieten, seine pornographischen Zeitungen auszuhängen. Das ist Gift für Kinder!«

Das war es dann auch. Sie zogen ab und wir hörten nie wieder was von ihnen. Außerdem gewöhnte man sich langsam an uns. Nur die Neonazis nicht, die machten Randale. Es gab noch ein paar Monate Krach. Wir sangen aus Protest »Völker hört die Signale« Manchmal ging es hoch her, und wir fingen uns Beulen und Brüche ein. Aber nach ein paar Monaten wurden wir auch damit fertig. Es kehrte wieder Ruhe ein.

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