Mai 2019 - Ausgabe 209
Strassen, Häuser, Höfe
Die Häuser der Skalitzer Straße (3): Die Nummer 104 von Werner von Westhafen |
Geschichte des Hauses in der Skalitzer Straße könnte schnell erzählt werden, die einiger Menschen aber, die einst hier wohnten und arbeiteten, ist bis heute voller Ungewissheiten. Gebaut wurde auch das Mietshaus mit der Nummer 104 bereits 1872, als es noch freie Grundstücke in der Nähe der Spree gab, wo die Kähne mit Ziegeln, Holz und Sand anlegten, Materialien, die man zum Häuserbau brauchte. 23 Jahre später kauften zwei Papierfabrikanten das Haus, ließen Keller in den Sand graben und errichteten Quergebäude. Als Littauer & Boysen 1895 ihre Maschinen von der Melchiorstraße in die Skalitzer Straße transportierten, standen bereits drei mehrgeschossige Quergebäude zur Verfügung – wesentlich mehr, als sie für die 12 Schnellpressen, 9 Dampfpressen, 26 Handpressen und 18 sogenannten Balanciers benötigten, mit denen sie kunstvoll bedruckte Kartonagen und Spitzenpapiere, Glückwunschkarten mit Gravuren und Bordüren, sowie jene bunt bedruckten Lebkuchenoblaten herstellten, die später zum Markenzeichen der Firma werden sollten. Deshalb war die 104 nicht nur die Anschrift für die Luxuspapierfabrik von Littauer & Boysen, sondern auch für eine Klavierfabrik, eine chemische Fabrik und eine Bronzegießerei. Es muss, stellt Dr. Dietlinde Peters bei ihren Recherchen zur Geschichte der Fabrikanten fest, ziemlich laut gewesen sein in den Höfen des Hauses, wenn die schweren Maschinen Reliefs in das Papier drückten. Üblicherweise standen die Stanzmaschinen »wegen ihres stoßweisen Ganges beinahe sämtlich im Erdgeschoß«, in der Skalitzer aber verteilten sich die Maschinen zum Stanzen, Drucken und Prägen über mehrere Etagen und ließen die Dielen im Hause erzittern. Auch wenn sich die vornehmen Herrschaften im Vorderhaus beschwert haben sollten, es wurde nicht leiser im Haus. Im Gegenteil: Der Bedarf an kunstvoll bedruckten Geschenkkartons mit Schleifen und feinstem Seidenpapier wuchs und erreichte Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. 600 Angestellte waren in der Firma beschäftigt, an den meisten Maschinen standen Frauen, »schnell angelernt und schlecht bezahlt.” Im Gegensatz zu den männlichen Druckern und Lithographen erhielten sie zwischen 6 und 16 Mark in der Woche, etwa die Hälfte des Männerlohnes, was zur Folge hatte, dass viele von ihnen sich Arbeit mit nach Hause nahmen, weshalb »in den engen Wohnungen der Kreuzberger Arbeiterquartiere nicht nur Nähmaschinen bis spät in die Nacht hinein ratterten«, sondern auch kleine Stanzapparate. Und weil gerade Seidenkarten in Mode waren, klebten Frauen die halbe Nacht Seidestückchen auf Kartons, für 0,2 Pfennige das Stück. Aber davon wussten die Bewohner im Vorderhaus nichts. Allmählich entstand zwischen Skalitzer und Köpenicker Straße – und damit in der Nähe des Berliner Zeitungsviertels - ein regelrechtes Zentrum für Papier- und Druckindustrie mit einem »Papierhaus« in der Dessauer Straße und eigener »Papier-Zeitung«. Das Geschäft florierte, es war, als drucke man kein Papier, sondern Geld. Ein Zeitzeuge schrieb: »Ein eben mündig gewordener Fabrikant, der vor drei Jahren noch Arbeiter war, nimmt nach drei Jahren selbständiger Arbeit so viel ein, daß er sich eine Equipage leisten kann!« Auch die beiden Luxuspapierfabrikanten aus der Melchiorstraße scheinen ihr Glück gemacht zu haben. Aber nach dem ersten verlorenen Krieg gibt es keine Gründe mehr zum Feiern, Geschenkkartons und Glückwunschkarten werden zu Ladenhütern. Lediglich die berühmten Lebkuchenbilder von Littauer & Boysen, mit denen die Berliner zur Weihnachtszeit Backwaren dekorieren, werden noch immer bis in die USA exportiert. 1927 aber – die beiden Firmengründer, Franz Georg Boysen und Arnold Littauer, sind längst aus dem Geschäft ausgeschieden – verkaufen die Erben die kostbaren Druckplatten. Der alte Franz Georg Boysen sah sein Lebenswerk zerstört und nahm sich wenige Monate nach der Übernahme der Firma durch die Nazis, so erzählt man, das Leben. Das genaue Todesdatum ist ebenso unbekannt wie sein Geburtsdatum. Als am 9. Mai 1934 das Amtsgericht die Zwangsverwaltung des Grundstückes anordnet, ist das auch für Einzig das Todesurteil. Er begeht am 21. Januar 1935 Selbstmord. Heinrich Benjamin Kristeller aber musste das bittere Ende der Erfolgsgeschichte bis zum Schluss verfolgen. 1936 geht das Grundstück samt Gebäuden und neuen Maschinen an die »Deutsche-Central-Boden-Creditgesellschaft«. Am 27. Oktober 1938 schließlich verschwindet die Firma gänzlich aus dem Handelsregister, die AEG, eine Chemie- und eine Metallwarenfabrik ziehen in die Räume der Papierfabrik ein. Die Recherche der Historikerin Dr. Dietlinde Peters endet mit den Worten: »Heinrich Benjamin Kristeller lebt völlig verarmt in Charlottenburg« und »stirbt am 3. Dezember 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt.« • Literaturnachweis: Dr. Dietlinde Peters in »Juden in Kreuzberg«, Hrsg. Berliner Geschichtswerkstatt e.V 1991: »Littauer & Boysen, Seite 209 f.f. |