Mai 2019 - Ausgabe 209
Kreuzberger
Helga Costantini Ich hätte nirgendwo anders arbeiten wollen als in der Halle
von Edith Siepmann
|
Seit fast sechzig Jahren steigt sie morgens an der Gneisenau- straße aus der U7 und läuft die Zossener Straße hinauf zur Markthalle. Früher sechsmal die Woche, heute zwei- bis dreimal. Sie öffnet die schwere Schwingtür, macht das Licht im Zeitungs-Tabak-Lottostand an und zieht den beigen Popeline-Mantel aus. Hier ist ihr Arbeitsplatz und ihre zweite Heimat. Es gibt niemanden, der die Markthalle so aus dem Effeff kennt. Frau Helga, wie sie hier alle nennen, arbeitet seit 58 Jahren als Verkäuferin in der Halle. Eine Zeitungsannonce hatte die 18-jährige Süßwaren- und Spirituosenverkäuferin zum Seifenwaren-Stand von Frau Strubel geführt. »Det jefiel ma gleich, war nich so schwer wie mit die Spirituosen.« Sie war als Lehrling an TBC erkrankt, brauchte fast ein Jahr, um die Krankheit in einem Schwarzwald-Sanatorium auszukurieren, und konnte danach keine schweren Kisten mehr schleppen. Die nach der Zerstörung im Krieg restaurierte Marheinekehalle war gerade sieben Jahre alt und Hauptanlaufpunkt für die Anwohner. »Die hintere Reihe, det waren alles Fleischer. Wurst Haase war schon da. Und acht Gemüsestände. Drei Seifenläden und eine Drogerie! « Helga Costantini hat in der Halle Generationen von Kreuzbergern aufwachsen und alt werden sehen. Die Ur-Kreuzberger wurden in den Siebzigern weniger, denn wer es sich leisten konnte, zog hinaus in die neuen komfortableren Viertel am Stadtrand, oft nach Rudow. Dafür zogen jetzt türkische Gastarbeiterfamilien und die Studenten aus Westdeutschland in die runtergekommenen Wohnungen mit Außenklo, dann die Hausbesetzer, am Ende die Bauarbeiter. Es blieben die Rentner und die Witwen, die Lebenskünstler und die Vieltrinker. Seit geraumer Zeit beobachtet Frau Helga die Neu-Kreuzberger in der Halle, denen man ihr dickeres Portemonnaie an den Designer-Klamotten anmerkt. Und Touristen aus aller Welt, Japaner, Spanier, Bayern. »Aber wie sich det nu alljemein mit die Leute im Kiez verändert, krieg ich nicht so mit. Von meine Kunden hör ick so, wer jestorben ist oder ins Heim jekommen ist. Ick bin immer nur hier am Stand.« Früher war das anders. Da gab es bis in die Achtziger noch die Mittagspause zwischen 13 und 15 Uhr, in der die Halle geschlossen war. Da ging man mit Kolleginnen in die Postkantine, wo gute Hausmannskost gekocht wurde. Oder man ließ sich im Friseursalon in der Halle unter einer der Trockenhauben von Simone die Dauerwelle machen. Und man bummelte die Bergmannstrasse entlang - vorbei am Juwelier Schreiber, Boeldickes Unterwäscheladen, dem Reformhaus und kaufte auch mal was Schickes bei Martina Moden, ihrem Lieblingsladen. »Um drei viertel drei warteten die Leute vor der Tür, dass se endlich reinkönnen. Und morgens schon standen die Männer am kleinen Wurststand bei ihrer Jauerschen und riefen: Hallo Frau Helga, wir kommen gleich! Und dann hamse ihre Rubbellose jeholt. Ja, wir hatten viel zu tun!« Samstags schloss die Halle schon um 13 Uhr und war kurz vorher gerappelt voll mit Spätaufstehern. »Da hamwa um fünf vor eins einzelne Rollen Toilettenpapier verkauft, die Rolle für 20 Pfennig.« Und dann noch die Lottospieler auf den letzten Drücker, voller Hoffnung auf den Jackpot, damals wie heute. »Manche nennen mich ihre Glücksfee aus der Halle. Eigentlich hat es mir immer gefallen hier. Ich hätte nirgends anders arbeiten wollen.« Frau Helga ist eine zurückhaltende, freundliche und alterslos wirkende Dame. Sie schiebt sich nicht in den Vordergrund, sondern steht verlässlich hinterm Ladentisch, um ihre Kunden zu beraten und zu bedienen. »Ick gloobe, ick kann abzählen an zehn Fingern, wie oft ich krank war.« Sie gehört der abgehärteten Generation Wiederaufbau und Wirtschaftswunder an - soweit man im ummauerten Kreuzberg außerhalb der Eckkneipen von Letzterem reden konnte. »Doch, an den Mauerbau kann ick ma erinnern. Det war uff´n Sonntag, det hamse im Radio jebracht. Und det hat sich auch bei uns bemerkbar jemacht. Es wurde mehr Kosmetik und überhaupt Westware aus der Werbung gekauft zum Verschicken in den Osten.« Die kleine Helga wird 1943 in der Leykestraße in Neukölln geboren. »Da hamwa uns nach Bonbons gebückt, die die Amis aus den Flugzeugen warfen.« Von schlechten Zeiten und Hunger hat sie nichts mitbekommen. »Mein Vater war bekannt, dass der gut Hamstern fah-ren konnte. Der hat noch andere Familien mit ernährt.« Ab 1948 wächst sie mit ihren vier Geschwistern in einer Altbauwohnung an der Karl-Marx-Straße auf. »In dem Haus, wo damals schon Kropps Fisch-Feinkost war.« An den Krieg oder die Ruinen kann sie sich nicht erinnern. »Ich hatte eine schöne Kindheit. Wir waren immer draußen und haben aufm Damm gespielt: Hopse und Einkriegen, mit dem Ball Zehnerrunde anne Wand. Wir haben an den Baum gemurmelt aufm Boddinplatz, getrieselt und Völkerball gespielt. Es gab ja fast keine Autos.« Als einer ihrer Brüder trotzdem von einem Wagen überfahren wird, ist das ein Schock, der lange nachwirkt. In die Hermann-Boddin-Grundschule geht sie gern, und sie ist gut im Kopfrechnen. »Wenn wa vonne Schule jekommen sind, hamwa den Ranzen hinjeschmissen und sind ab ins Kulle!« So nannten die Kinder das neu gebaute Columbiabad. Mitte der Fünfziger kam sie dann das erste Mal raus aus Neukölln. Kinderlandverschickung, »Kinder an Luft und Sonne« hieß das Programm. Sie war im Schwarzwald bei einer freundlichen Familie mit einer Tochter im gleichen Alter, eine schöne Kindheitserinnerung. Als Teenager mit fünfzehn Jahren fängt sie die Verkäuferinnenlehre bei »Minota« an, und am Wochenende geht es zum Tanz ins »Resi«, in die »Neue Welt«, in die »Kindl-Festsäle« oder ins Kino. Hasenheide und Hermannstraße waren voller Tanzsäle und Kinos: Stern, Rixi, Europa, Atlas, Colosseum... Foto: Privat
Seit 20 Jahren wohnt sie jetzt alleine in der Fritz-Erler-Allee in einer 1,5-Zimmer-Wohnung. Nach 61 Arbeitsjahren und 50 Jahren Einzahlung bekommt sie gerade mal 900 Euro Rente. Als Verkäuferin verdient man eben nicht viel. Da muss man eben weiter arbeiten. Früher, bei ihrer zweiten Chefin, Frau Krebs, lief das Drogerie-Geschäft ausgezeichnet, da waren die Preise gesetzlich vorgeschrieben. Es gab keine Sonderangebote und kein Rossmann. Dann wurde es schwieriger. Aber Lotto ging immer. Noch heute kommen Stammkunden aus alten Zeiten. So wie der Herr Engler vom Lederwarengeschäft, der mit den ausgefüllten Lottoscheinen der alten Frau Graf, der Mutter von Frau Krebs, zweimal einen Fünfer hatte. »Der Herr Engler ist großzügig, der ließ uns 1000 DM Trinkgeld da, und ich bekam davon 400!« Frau Helga kam immer gut aus mit ihren fünf Chefinnen und Chefs aus. Sie möchte die Arbeit nicht missen, bis heute nicht. Auch wenn das Stehen mit Mitte Siebzig allmählich anstrengend wird und wenn es keine gloriosen Hallenbälle mehr gibt wie früher, als die Chefs mit ihren Angestellten in den Kindl-Festsälen an der Hermannstraße durch die Nacht schwoften. Zum Lottostand kommen sie immer noch, die Händler. Ebenso wie die Stammkunden. »Tach, Franco!« - »Ach, Frau Helga! Wie geht’s denn so? ... « Das würde ihr fehlen. Und deshalb hat sie »Ja« gesagt, als Herr Paul vor zwei Jahren den Laden übernahm und fragte, ob sie weiterarbeiten wolle. Sie war der Halle ja immer treu geblieben, auch während des Umbaus 2007, als alle ein Jahr im Container auf dem Marheinekeplatz den Betrieb aufrecht erhielten. Damals und Heute, die Lottofee bringt es auf den Punkt: »Jetzt ist die Halle sauberer, aber früher warse jemütlicher.« • Foto: Privat
|