Kreuzberger Chronik
Mai 2019 - Ausgabe 209

Geschichten & Geschichte

O ewich ist so lanck! (3):
Die Muse Charlotte von Kalb



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von Eckhard Siepmann

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Wo in Berlin hatte der Feminismus in den letzten 50 Jahren mehr Zustimmung als in Kreuzberg? Wohl nirgendwo! Aber kaum jemand hier ahnt, dass in der Nähe der Bergmannstraße eine Schriftstellerin ihr Grab gefunden hat, die schon ein halbes Jahrhundert, bevor die Frauenbewegung Deutschland zu beunruhigen begann, in ihrer Lebenspraxis das traditionelle Bild der folgsamen und beschränkten Frau zerstörte. Sie wäre wohl komplett in Vergessenheit geraten, hätte sie ihren Emanzipationsfuror nicht in Affären und Auseinandersetzungen mit weltberühmten Dichtern ausgetobt. Ihr schonungsloses Fazit: »Ich kenne nichts Trivialeres als die Vorstellungen unserer meisten Dichter über die Frauen.«

Das Grab der Charlotte von Kalb auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof wurde jüngst restauriert. Der Grabspruch, nun wieder lesbar, ist fast so rätselhaft wie die erotisch-subversiven Triebkräfte der lebenslang ruhelosen Toten. »Ich war auch ein Mensch, sagt der Staub/ Ich bin auch ein Geist, sagt das All.«

Was der Gemeindepfarrer Philipp Marheineke sprach, als er 1843 die Trauerrede für die damalige Femme Fatale hielt, ist nicht überliefert. Er wird von ihrem Leben berichtet haben, von jenem Tag, als Charlotte 1761 in einem Schloss in Waltershausen das Licht der Welt erblickte. Die Eltern waren enttäuscht, sie hatten sich einen Jungen gewünscht und hielten ihre Enttäuschung vor Lotte nicht geheim: »Du solltest nicht da sein!« Für Charlotte wurde der Satz zu einem Menetekel, er fiel ihr noch ein, als sie achtzigjährig und erblindet einem Helfer ihre Erinnerungen diktierte.

Als sie sieben ist, stirbt der Vater, als sie acht ist, die Mutter. Sie wird bei Verwandten und Bekannten herumgereicht, sie zieht sich zurüc, liest viel, nährt Fantasie und Geist. So entsteht ein Wesen von fast krankhafter Erregbarkeit, bei gleichzeitiger Kreativität und Gedankenfülle. »Frau von Kalb«, urteilt eine Zeitgenossin, »ist von allen Frauen die geistvollste. Sie fühlt sich so frei, daß sie nach dem erhabensten Geistesblick öfters lacht. Flugs nimmt ihr Geist eine entgegengesetzte Richtung und tut da wieder Wunder.«

Mit 22 Jahren wird sie mit Heinrich von Kalb verheiratet, einem etwas langweiligen Offizier. Charlotte möchte fliehen, doch sie ist schwanger. Die Rettung naht, als sie 1784 mit Heinrich verreist und in Mannheim einem jungen und aufrührerischen Dichter begegnet: Friedrich Schiller. Charlotte ist hin und weg, auch der Dichter der Räuber ist tief beeindruckt. »Die Frau zeigt sehr viel Geist und gehört nicht zu den gewöhnlichen Frauenzimmerseelen.« Er entdeckt in ihr »das erste weibliche Wesen, mit dem ich offen über alles sprechen konnte«. Die Verliebten kommen einander immer näher – wie nahe, darüber wird in der Literaturgeschichte wortreich gestritten. Charlotte bringt einen Jungen zur Welt, der den Namen Friedrich erhält. Der Dichter indes schreibt gerade an seinem Don Karlos, und einige Frauen in diesem Stück tragen unzweifelhaft die Züge seiner neuen Flamme.

Nach einigen Wochen hat es der Dichter plötzlich eilig, Mannheim zu verlassen. Karrieregründe, unaufschiebbar! Charlotte reagiert verstört, sie ahnt die Bedeutung dieses überstürzten Aufbruchs, hofft auf ein Wiedersehen. Schillers Erinnerung an die Affäre tritt in den Hintergrund, in Dresden verliebt sich der Dichter auf einem Maskenball in eine Neunzehnjährige im Zigeunerinnenkostüm. Charlotte zieht es nach Weimar, der Hauptstadt des Geistes, und es gelingt ihr, auch Schiller dort hinzulocken. Der scheint entschlossen. »Wir haben uns vorgesetzt, kein Geheimnis aus unserem Verhältniß zu machen...Charlotte hat alle Hoffnung, daß unsere Vereinigung im October zustande kommen wird.« Aber schon bald beklagt er sich über die »Launen und Stimmungen«, den »eigensinnigen Hang ihres Wesens.«

Charlottes Enttäuschung ist grenzenlos. Ob sie die Verse gelesen hatte, die der Dichter schrieb? »Sieh, Göttin, mich zu deines Thrones Stufen,/ Wo ich noch jüngst, ein frecher Beter, lag, / Mein übereilter Eid sei widerrufen,/ Vernichtet sei der schreckliche Vertrag...«

Doch es dauert nicht lang, da tritt der nächste Dichter in ihr Leben: Der Hauslehrer Friedrich Hölderlin, der gleich nach der ersten Begegnung in einem Brief an Hegel schwärmt, Charlotte von Kalb habe »einen nach Umfang und Tiefe, Kühnheit und Gewandtheit ungewöhnlichen Geist.« Weniger anregend fiel das Verhältnis zu ihrem Sohn Friedrich aus, an dessen Bett Hölderlin nachts wachen musste, weil der zu Praktiken neigte, die damals als ungesund galten.

Nicht besser als mit Schiller geht es Charlotte nach der kurzen Episode mit Hölderlin mit dem Dichter Jean Paul. Große Leidenschaft, Monate angeregten Liebeslebens, Scheidungs- und Heiratspläne, und dann die Misere: Die Dame ist zu aufgebracht, gleichzeitig zu kritisch seinem Werk gegenüber, der Poet passt. Die Rückkehr zu ihrem Ehemann wird durch dessen Freitod unmöglich: Der Offizier verspielt das gemeinsame Vermögen, verfällt der Trunksucht und gibt sich schließlich die Kugel. Bald darauf erschießt sich auch einer ihrer Söhne.

Charlotte zieht nach Berlin, lebt mehr schlecht als recht von einem Handel mit Schokolade, Tee und Strickwaren. Mit 58 Jahren erblindet sie vollständig. Man weist ihr eine kleine Wohnung im Schloss zu, wo sie verarmt, aber tapfer und geistig rege bis zuletzt wohnt und ihre Memoiren diktiert. Sie stirbt 1843 in den Armen ihrer Tochter. Es ist das Jahrzehnt der Geburt der deutschen »Frauenbewegung«, das Jahrzehnt, in dem Louise Otto-Peters in die Welt schmettert: »Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen!« •


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